»Augenzeugen?«
»Jede Menge, Tom. Aber immer schön der Reihe nach.« Krokowski schnappte nach Luft, zurrte seine Fliege zurecht und sagte: »Gestern Abend, nach übereinstimmenden Aussagen um halb neun, betritt Blaschkowitz den Wilden Mann und stellt sich an die Theke.«
»Wie jeden Freitagabend.«
»Genau. Zunächst sieht alles danach aus, als sollte dies ein Freitagabend wie jeder andere werden. Bis, tja, bis so gegen zehn eine brünette, überaus ansehnliche und in besagten Gefilden nie zuvor in Erscheinung getretene …«
»Dame auftaucht. Geht’s vielleicht noch ein bisschen hochgestochener, Herr Kommissar?«
»Hochgestochen oder nicht – zur Überraschung der Anwesenden, Blaschkowitz mit eingeschlossen, beginnt die Erwähnte alsbald, Letzterem heftige Avancen – Entschuldigung! – macht sie sich sofort an Blaschkowitz ran. Der fühlt sich geschmeichelt, zögert keine Sekunde und ist offenbar der Meinung, die schöne Unbekannte verzehre sich förmlich nach ihm.«
»Ein Trugschluss.«
»Und was für einer. Kein Zweifel, die Dame hat es auf Blaschkowitz abgesehen, weniger aufgrund seines Alters oder körperlicher Vorzüge, sondern aus einem ganz anderen Grund.«
»Klassischer Fall von Lockvogel.«
»Exakt«, bekräftigte Krokowski, derart in Fahrt, dass er Sydows Schmunzeln nicht bemerkte. »Auf den Punkt gebracht, kurz nach elf fassen die beiden den Entschluss, den Abend im privaten Rahmen ausklingen zu … ihr Techtelmechtel woanders fortsetzen und bitten den Wirt, ein Taxi zu rufen.«
»Ziel?«
»Anhalter Bahnhof. Ein Domizil für gehobene Ansprüche.«
»Und woher weißt du das so genau?«
»Weil Natalja – so ihr angeblicher Name – ein entscheidender Fehler unterlaufen ist, darum.« Krokowski räusperte sich und sah Sydow Beifall heischend an. »Ein Fehler, wie ihn sonst nur Anfänger begehen.«
»Nun red schon Kroko. Mach’s nicht immer so spannend.«
»Sie hat ihre Handtasche vergessen, Tom.«
»Sie hat … sie hat was?«
»Du hast richtig gehört, Tom. Inklusive der Visitenkarte ihrer Nobelabsteige.« Um Eindruck zu schinden, ließ Krokowski einige Sekunden verstreichen. Dann fügte er mit stolz geschwellter Brust hinzu: »Einen gefälschten Ausweis, der auf eine gewisse Natalja Opuczinski, wohnhaft in Berlin-Zehlendorf, ausgestellt ist, nicht zu vergessen.«
»Gefälscht, sagst du?«
»Und das nicht mal besonders gut.« Krokowski strahlte förmlich vor Glück. »Aber das ist immer noch nicht alles, Tom.«
»Heiliger Strohsack, manchmal kannst du einem wirklich auf den …«
»Nebst anderen Utensilien bin ich bei meiner Untersuchung des Corpus Delicti auf ein vergoldetes Zigarettenetui aus dem Hause Marlboro gestoßen. Auf dessen Rückseite war eine achtstellige Ziffer eingestanzt, allem Anschein nach eine Art Seriennummer. Dem war allerdings nicht so.« Stolz wie ein Pfau, hob Krokowski das Kinn und streckte die Brust heraus. »Es war eine Telefonnummer, Tom!«, frohlockte er. »Und weißt du auch, welche?«
»Etwa die vom amerikanischen Hauptquartier?«
»Dreimal kurz gelacht. Ganz so dilettantisch, wie es den Anschein hat, ist die Dame dann doch nicht vorgegangen.«
»Dann eben die von einer konspirativen Wohnung.«
»So schwer es mir fällt, dir recht zu geben, Tom – ja.« Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, begann Krokowski ruhelos auf und ab zu wandern. »Da niemand drangegangen ist, habe ich mir die Freiheit genommen, genauere Erkundigungen einzuziehen. Kurzum – der Mieter der möblierten Wohnung, unter dessen Namen der Anschluss angemeldet wurde, taucht nach Auskunft des Hausbesitzers anscheinend nur sporadisch dort auf.«
»Denkst du, was ich denke?«
»Falls du darauf anspielst, dass es sich um einen Agententreff handeln könnte – ja.«
»Und warum hat sich der Vermieter dann nicht gerührt?«
»Ganz einfach. Weil die Miete für das besagte Domizil, welches nur etwa einen Kilometer vom amerikanischen Hautquartier entfernt liegt, offenbar bis Jahresende im Voraus bezahlt worden zu sein scheint. Ach, übrigens, bevor ich’s vergesse: Der ominöse Mieter ist anscheinend Amerikaner.«
»Was du nicht sagst.«
»Wie es scheint, handelt es sich beim Hausbesitzer, einem gewissen Herrn Matuschek, um einen mitteilsamen und nicht eben diskreten Mann. Heißt, er will beobachtet haben, wie sein Mieter, dessen Name angeblich Petschke war, des Öfteren Damenbesuch erhielt. Und zwar von einer etwa 30 Jahre alten, brünetten und überaus attraktiven Venus, mit der er sich nicht etwa auf Russisch, sondern angeblich auf Englisch mit unüberhörbar amerikanischen Akzent unterhalten hat.« Krokowski rieb sich genüsslich die Hände. »Du verstehst, was ich damit andeuten will?«
»Natalja.«
»Alle neune! Schenkt man der Aussage von Matuschek Glauben, haben die beiden überhaupt nicht zusammengepasst. Unter anderem, weil Petschke knapp zehn Jahre jünger, eher schmächtig und so bieder und unscheinbar war, dass die lieben Nachbarn alsbald rätselten, was die beiden miteinander zu tun haben könnten. Er, Matuschek, sei jedenfalls zu dem Schluss gekommen, es müsse sich um eine rein geschäftliche Beziehung gehandelt haben.«
»So kann man es natürlich auch sagen. Sonst noch was?«
»Wenn man so will – ja.« Gerade eben noch in Hochstimmung, dämpfte Krokowski seinen Ton und ergänzte: »Auf dem Rückweg bin noch mal schnell ins Präsidium. Man weiß ja schließlich nie, ob es etwas Neues gibt.«
»Oder ob sich die Gelegenheit zu einem privaten Stelldichein mit einer gewissen Annerose Mollig anbietet.«
»Eine … eine durch nichts bewiesene Unterstellung.«
»An dir ist wirklich ein Schauspieler verloren gegangen«, konterte Sydow amüsiert. »Nur Mut – mir kannst du es ja sagen.«
Knallrot im Gesicht, schlug Krokowski die Augen nieder, wich dem überaus heiklen Thema aus und erklärte: »Stelldichein oder nicht – kaum war ich im Präsidium, hat der Kollege Peters angerufen. Sieht so aus, als habe es in beziehungsweise in der Nähe der Waldbühne eine wilde Schießerei gegeben. Resultat: Drei Tote.«
Nichts Gutes ahnend, verzog Sydow das Gesicht. »Kannst du mir verraten, was das mit unserem Fall …«
»Eine Menge, Tom«, fuhr Krokowski ungerührt fort. »Und weißt du auch, warum?«
Sydow verschränkte die Arme, sandte ein Stoßgebet zum Himmel und schwieg.
»Weil es sich bei den Toten ausnahmslos um amerikanische Staatsbürger handelt, darum. Und weil – hört, hört! – unmittelbar nach dem Auftauchen der Spurensicherung der Befehl erging, die Ermittlungen einzustellen und den Kollegen von der MP das Feld zu überlassen. Die wiederum, so Peters, von der CIA dazu verdonnert worden sind, keinerlei Informationen an uns weiterzugeben.«
»Der Befehl kam von Oelßner, stimmt’s?«
»Richtig getippt. Und jetzt kommt’s. Der Herr Kriminalrat hat es sich anscheinend nicht nehmen lassen, Naujocks und Peters höchstselbst zum Schweigen zu verdonnern.«
Sydow pfiff durch die Zähne. »Mit anderen Worten, du nimmst an, die Schießerei hat irgendetwas mit unserem Fall zu tun.«
»Ich nehme es nicht nur an, Tom, sondern bin felsenfest davon überzeugt. Nach Angaben des Vermieters hat unser amerikanischer College-Boy nämlich nicht nur Damenbesuch gehabt. Gestern Abend, Herrn Naseweis zufolge gegen sechs, soll es in Petschkes Wohnung zu einer Ménage-à-trois gekommen sein, an der – man höre und staune! – nicht nur sein ominöser Untermieter und die noch viel ominösere Venus mit Namen Natalja, sondern ein weiterer, circa 30 Jahre alter, kräftiger, pockennarbiger und noch dazu schwarzer Gast teilgenommen haben soll.«
»Herkunftsland: vermutlich USA.«
»Exakt.«
»Gut und schön. Aber was hat das alles mit der Schießerei in der Waldbühne …?«