Die Abrechnung mit John Fitzgerald Kennedy, der all dies zu verantworten hatte, nicht zu vergessen.
»Dann mal los, Männer.« Beschwingt wie selten zuvor, gab McClellan das Zeichen zum Aufbruch.
Und wurde Zeuge, wie der Agent an der Bedienungskonsole plötzlich erstarrte, einen erstickten Schrei ausstieß und wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte.
Reaktionsschneller als seine Kameraden, riss McClellan seinem Nebenmann den Karabiner aus der Hand, wirbelte herum und nahm den Heckenschützen, den er irgendwo im nahen Dickicht wähnte, ins Visier.
Mit seiner Vermutung lag der Veteran der 7. Infanteriedivision richtig. Das Inferno, welches im gleichen Moment über ihn hereinbrach, hatten jedoch weder er noch seine Männer erwartet. Es begann im gleichen Moment, als der Agent an der Konsole sein Leben aushauchte, ohne Vorwarnung, wie aus dem Nichts. Auf einen Schlag war es taghell, und ehe die CIA-Leute begriffen hatten, was gespielt wurde, wurde das Geräusch explodierender Blendgranaten vom Geknatter der Kalaschnikows, den Detonationen zahlloser Handgranaten und vom Getriebelärm einer MIG, die im Tiefflug über den Rangsdorfer See donnerte, nahezu vollständig übertönt. Darauf und auf die Tatsache, dass Skip McClellan von einer sowjetischen Granate in Stücke gerissen wurde, waren die Agenten der Sondereinheit Uranus nicht vorbereitet. Alles geschah so schnell, so unerwartet und mit einer derartigen Wucht, dass bis auf einen blutjungen texanischen Raketentechniker, dem es wenigstens gelang, seine Waffe zu ziehen, alle fünf Männer mithilfe gezielter Schüsse zu Boden gestreckt wurden. Doch die sowjetischen Elitesoldaten, denen befohlen worden war, so wenige Gegner wie möglich zu töten, hatten nicht mit der Entschlossenheit ihrer Widersacher gerechnet. Einem von ihnen, der lediglich einen Streifschuss abbekommen hatte, blieb genug Zeit, eine Giftkapsel zu schlucken. Drei weitere, darunter zwei ehemalige Marineinfanteristen, schossen sich eine Kugel durch den Kopf. Der Texaner hingegen setzte sich erbittert zur Wehr, weshalb den Rotarmisten nichts anderes übrig blieb, als ihn mit vereinten Kräften zu liquidieren.
Trotz alledem konnten die sowjetischen Fallschirmjäger, aus denen sich das Gros der Angreifer rekrutierte, zufrieden sein. Sämtliche Kameraden waren noch am Leben, der Raketenwerfer, mehrere 100.000 Rubel wert, völlig intakt. Die imperialistischen Agenten dagegen waren tot, allen voran ihr Kommandeur, dessen Leichnam derart verstümmelt war, dass man sich die Identifizierung getrost sparen konnte.
26
Berlin-Tiergarten, Lehrter Stadtbahnhof
| 23.03 h
»Und du willst mir wirklich nicht sagen, was ihr vorhabt?«
»Lieber nicht«, wiegelte Sydow ab, parkte seinen Aston Martin gegenüber dem Haupteingang des Lehrter Stadtbahnhofes und ließ die Hand auf der Schulter seiner Frau Lea ruhen. »Dazu ist später noch Zeit.«
»Später, aha. Unter der Voraussetzung, dass du dann noch am Leben bist. Schon vergessen, was dir vor eineinhalb Stunden widerfahren ist?«
»Glaub mir, Lea – es ist besser so«, beschwor Sydow seine Frau, umrundete seinen in die Jahre gekommenen Sportwagen und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Das Wichtigste ist, dass du jetzt losfährst, Veronika und ihren Vopo-Kavalier aus der Falle klingelst und die beiden möglichst rasch in den Westen eskortierst. Falls Letzterer Zicken macht, schnappst du dir deine Tochter, nimmst die nächstbeste S-Bahn und siehst zu, dass du vor Mitternacht wieder hier drüben bist. Vor Mitternacht, hörst du? Treffpunkt: Brandenburger Tor. Und jetzt beeil dich, sonst kommst du zu spät, mein Schatz.«
»Eye, eye, Sir!«, antwortete Lea Sydow und konnte es sich nicht verkneifen, spaßeshalber zu salutieren. »Ich nehme an, der Held meiner Backfischjahre ist alt genug, um zu wissen, was er tut. Apropos – was ist eigentlich mit Eduard?«
»Unterwegs in geheimer Mission.«
»Hört sich nach Agentenroman an.«
»Klingt nicht nur so, sondern ist einer!«, seufzte Sydow aus vollem Herzen, nahm seine Frau bei der Hand und zog sie Richtung Eingang mit sich fort. Dort angekommen, strich er ihr über die Wange und sagte: »Wie er ausgeht, hängt ganz allein von Kuragin ab.«
»Und davon, dass der Kurier des Zaren rechtzeitig zur Stelle ist!«, verulkte Lea Sydow ihren Mann und drückte ihm den Umschlag in die Hand, von dessen Inhalt nicht nur das Schicksal ihrer Tochter, sondern auch dasjenige seines Mannes und, wie sie nicht zu Unrecht vermutete, die Zukunft der ganzen Stadt abhing. »Sie wollen die Grenze dichtmachen, stimmt’s, Tom?«, rief sie ihrem Mann hinterher, nachdem der sich hastig verabschiedet und ihr auf seinem Weg zum Spreeufer noch rasch eine Kusshand zugeworfen hatte.
Doch Sydow, dessen Silhouette im Licht der Straßenlaternen nur noch schemenhaft zu erkennen war, wich einer Antwort aus, hob die Hand zum Gruß und erwiderte: »Mach dir keine Sorgen, Lea. Kuragin, Eduard und ich werden das Kind schon schaukeln. Und jetzt beeil dich – sonst sehen wir Vroni so schnell nicht wieder!«
*
Allein mit sich und dem, was vor ihr lag, stürmte Lea die Treppe hinauf, die zu den Geleisen führte, warf einen Blick auf die Uhr und kämpfte gegen die Panik an, die sich in ihrem Inneren breitzumachen begann. Gleich Viertel nach elf!, stellte sie mit banger Miene fest, und somit nur noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Und von der Linie 5, auf die sie wartete, keine Spur.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, aber auch, um ihre Angst zu überspielen, öffnete Sydows Frau ihre Handtasche und blätterte ihren Ausweis durch. ›Geburtsort: Neuhardenberg‹. Ein rotes Tuch für so manchen Grenzbeamten, wobei sie im Stillen hoffte, von Kontrollen verschont zu bleiben. Als Tochter eines enteigneten Großgrundbesitzers aus der Mark hatte sie für einen Staat, der sich als demokratische Republik ausgab, in Wahrheit aber eine Diktatur war, bei deren Gründung Stalin die Rolle des Taufpaten übernommen hatte, ohnehin noch nie viel übrig gehabt. Was es bedeutete, in einer solchen Diktatur zu leben, hatte sie am eigenen Leibe erfahren, vor allem, was es hieß, mit einem Standartenführer der SS verheiratet zu sein. Dass sie und Hans-Hinrich bald getrennte Wege gegangen waren, war nur ein schwacher Trost, zumal ihre Tochter, bei Kriegsende neun Jahre alt, sehr darunter zu leiden gehabt hatte.
Doch das war erst der Anfang allen Übels gewesen. Im Frühjahr 1946, während eines Besuches bei ihren Eltern, war sie Zeuge der Enteignung und Vertreibung geworden und hatte miterlebt, wie ihr lebensfroher, heimatverbundener und alles andere als nationalsozialistisch gesonnener Vater binnen Tagen zu einem gebrochenen und von Schwermut und Apathie heimgesuchten Wrack geworden war. Zwei Jahre später, kurz nach der Währungsreform, war er schließlich gestorben, mit dem Ergebnis, dass ihre Mutter offenbar jeglichen Lebensmut verloren und keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als ein halbes Jahr danach Selbstmord zu begehen.