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Abgesehen von einer Ehe, die nur noch auf dem Papier bestand, war ihre Tochter Veronika somit das Einzige gewesen, wofür es sich für Sie noch zu leben lohnte. Hätte es Tom nicht gegeben, der vor acht Jahren wie aus dem Nichts bei ihr aufgetaucht war, wäre sie vermutlich an ihrem Dasein verzweifelt. So aber hatte sie wieder Freude daran gefunden, war in ihren erlernten Beruf zurückgekehrt und hatte einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen. Ein Wermutstropfen der besonderen Art war dann allerdings der Umstand gewesen, dass sich ihre Tochter, Studentin der Kunstgeschichte an der FU Berlin, vor knapp zwei Jahren in einen durch und durch systemtreuen jungen Hauptmann der Volkspolizei aus Ostberlin verliebt hatte. Rein persönlich war ihr der junge Mann nicht unsympathisch gewesen, aber da seine Ergebenheit gegenüber dem System keine Grenzen kannte, hatte es zwischen ihm und Tom immer wieder hitzige Wortgefechte und politische Diskussionen gegeben, die, wie nicht anders zu erwarten, das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen den beiden über Gebühr strapaziert hatten. Was Ulbricht und Co. betraf, war mit Tom nicht zu reden, und daran würde sich so schnell nichts ändern.

»Stimmt etwas nicht mit Ihnen, gnädige Frau?« In Gedanken bei ihrem Mann und der Frage, was bei dem Treffen mit Kuragin herauskommen würde, hatte Lea das Eintreffen der S-Bahn, die in Kürze weiterfahren würde, nicht bemerkt. »Benötigen Sie Hilfe?«

»Geht schon, kein Problem.« Lea bedankte sich bei dem distinguierten älteren Herrn, dessen Frage sie wieder wachgerüttelt hatte, stieg ein und tat so, als sei diese Fahrt das Selbstverständlichste auf der Welt. Dass dem nicht so war, wurde ihr klar, als der Zug den Bahnhof verließ und mit quietschenden Rädern auf die Brücke zurollte, welche den Humboldthafen überspannte und den westlichen Teil von Berlin mit dem Osten ihrer Wahlheimat verband. Irgendwo da draußen verlief die Grenze, wo genau, war im Dunkeln nicht zu erkennen. Sehr bald aber, in einer Dreiviertelstunde, würde sich das ändern. Aus den Bemerkungen, die Tom fallen gelassen hatte, konnte man wahrlich keine anderen Schlussfolgerungen ziehen. Das Schlupfloch, durch das im laufenden Jahr Tausende entkommen waren, würde gestopft werden.

Mithilfe von Wachtürmen, Stacheldraht – und, wer weiß, am Ende vielleicht sogar mit Beton.

Lea schluckte, beim Gedanken an die Zukunft schnürte es ihr die Kehle zu. Dennoch ließ sie sich nichts anmerken, gab es kein Zurück mehr für sie. Sie musste den Styx überqueren, je schneller, desto besser.

Als die S-Bahn in den Bahnhof Friedrichstraße einfuhr, klopfte Lea das Herz bis zum Hals. Nach außen hin die Ruhe selbst, stieg sie aus und lief die Treppen hinunter, die zum U-Bahnhof führten. Nirgendwo, auch nicht am Fahrkartenschalter, war ein Grenzbeamter zu sehen, aber das hatte nicht viel zu sagen. Kontrolliert wurde bisweilen auch von Staatsdienern in Zivil, wenn man das Pech hatte, an den Falschen zu geraten, konnte man jede Menge Scherereien bekommen. Westberliner, die in den Osten fuhren, waren den DDR-Behörden ohnehin ein Dorn im Auge, allen voran der Staatssicherheit, vor der man nirgendwo sicher war. Leas Atem ging rascher, sie hatte Mühe, ihre Beklommenheit zu verbergen. Jeder hier, jeder einzelne der knapp zwei Dutzend Fahrgäste, welche auf die Linie 8 warteten, konnte ein Spitzel sein, und wenn es etwas gab, das sie in Panik versetzte, dann die Gefahr, ausgerechnet jetzt in eine Personenkontrolle zu geraten.

Entgegen ihren Befürchtungen war dies jedoch nicht der Fall, weder beim Einsteigen noch im weiteren Verlauf der Fahrt. Von dem, was sich um sie herum abspielte, bekam Lea nicht viel mit, für sie zählte nur eins – ihre Tochter. Wie diese allerdings darauf reagieren würde, wenn ihre Mutter mitten in der Nacht auftauchte, um sie in den Westen zu lotsen, stand in den Sternen. Vroni, so ihr Spitzname, war alles andere als eine willfährige junge Dame, was die Befürchtungen, welche Lea im Stillen hegte, neue Nahrung gab.

Heilfroh, die erste Etappe ihrer Mission hinter sich zu haben, stieg Lea am Bahnhof Bernauer Straße aus, hastete ins Freie und blickte sich rasch nach allen Seiten um. Um diese Zeit, genauer gesagt kurz nach halb zwölf, waren die Straßen wie ausgestorben und sie eine der Wenigen, die unterwegs waren. Das allein hätte allerdings nicht ausgereicht, um die beiden Stasi-Beamten, welche wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, auf Lea aufmerksam zu machen. Es war ihre Hast, die sie verriet, weshalb sich die beiden Zivilfahnder, auf der Suche nach verdächtigen Personen, umgehend an ihre Fersen geheftet hatten. »Staatssicherheit – bleiben Sie stehen!«, rief der ältere der beiden, der Lautstärke nach zu urteilen nur wenige Meter hinter ihr.

Lea gehorchte.

27

Berlin-Tiergarten, Sowjetisches Ehrenmal

| 23.18 h

Keineswegs frei von nostalgischen Gefühlen, die ihn beim Anblick des sowjetischen Ehrenmales überkamen, sprach Sydow die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht aus, sah sich prüfend um und folgte Kuragin auf dem Fuße. Genau hier, am Anfang der ehemaligen Ost-West-Achse, war er zusammen mit Rebecca in den Mosquito-Bomber eines Freundes aus Etoner Tagen geklettert und der Gestapo, die mit allen verfügbaren Kräften Jagd auf ihn gemacht hatte, nur um Haaresbreite entkommen. Den Rest des Krieges hatte er in England verbracht, weit weg von dem Inferno, das über Berlin hereinzubrechen begann. Mehr als sechs Jahre später, bei der Aufdeckung eines Komplotts ehemaliger SS-Angehöriger, hatte er dann Bekanntschaft mit Kuragin gemacht. Die Lösung des Falles war zwar nicht ganz einfach, für beide Seiten jedoch von Vorteil gewesen. Knapp fünf Jahre später wiederum hatten sich ihre Wege erneut gekreuzt. Aus der gemeinsamen Jagd nach dem Bernsteinzimmer war eine Freundschaft geworden, die, wäre es nach Sydow gegangen, auch nach der Lösung des Falles fortbestanden hätte. Genau das war jedoch nicht eingetroffen, da Kuragin, hochrangiger Offizier des sowjetischen Geheimdienstes, wenige Tage nach seiner Flucht in den Westen von der Bildfläche verschwunden war. Nur um heute, volle acht Jahre nach seinem plötzlichen Abgang, wieder aus der Versenkung aufzutauchen, ihm einen Umschlag mit hochbrisanten Informationen zuzuschanzen und sich in eine Privatfehde mit der CIA verwickeln zu lassen, bei der bislang vier amerikanische Agenten auf der Strecke geblieben waren. Sydow war lange genug im Dienst, um zu erkennen, dass dies jede Menge Scherereien nach sich ziehen würde, wovon er mittlerweile die Nase gestrichen voll hatte.

Ein Grund mehr, dem Mann, auf den er immer noch große Stücke hielt, mit Skepsis zu begegnen. »Und warum gerade ich?«, wollte Sydow, bei dem sich die Wiedersehensfreude in Grenzen hielt, nach reiflicher Überlegung wissen. »Hättest du dir nicht jemand anderen raussuchen können?«

»Das schon«, antwortete Kuragin gedehnt, nicht ganz bei der Sache und so bedrückt, dass Sydow beinahe Mitleid mit ihm bekam. »Aber niemanden, auf den ich mich verlassen kann.«

»Vertrauen oder nicht – ich darf doch annehmen, dass der Tote in der S-Bahn auf dein Konto geht, oder?«

»Darfst du.« Für seine Verhältnisse ungewöhnlich einsilbig, durchschritt Kuragin einen der Kolonnadengänge, welche in den rückwärtigen Teil des Ehrenmals führten, wo mehr als zweieinhalbtausend Rotarmisten bestattet waren, hielt unvermutet inne und ließ den Blick auf den dortigen Gräbern ruhen. »Gerade noch mal gut gegangen.«

»Was meinst du damit?«

»Nichts, Tom, nichts!«, beeilte sich Kuragin, dessen Verhalten Sydow einmal mehr Rätsel aufgab, zu versichern. »Wo waren wir gerade stehen geblieben?«

»Bei dem Kollegen, mit dem du heute Morgen aneinandergeraten bist.«

»Stimmt!«, antwortete Kuragin, löste sich aus seiner Erstarrung und begann zu Füßen des Kriegerstandbildes, welches die Anlage überragte, auf und ab zu gehen. Ringsum herrschte Totenstille, und der einzige Laut, welcher in der Dunkelheit widerhallte, war das Geräusch seiner Schritte auf dem verwitterten Asphalt. Kuragin tat sich mit einer Antwort schwer, und Sydow fragte sich nicht zum ersten Mal, welche Überraschungen ihm am heutigen Tage noch zuteil werden würden. »Allerdings dürftest du mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich keine andere Wahl hatte.«