»Komisch, aber ich war immer der Meinung, bei der CIA halten sie zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Ich auch.«
»Und wieso dann der Shoot-out in der S-Bahn?«
»Weil es Leute gibt, denen das, was ich herausgefunden habe, nicht ins Konzept zu passen scheint.«
»Mag sein, Juri«, wandte Sydow herausfordernd ein. »Aber das braucht dich nicht zu kümmern. Soweit ich weiß, hat doch wohl der Präsident das Sagen, oder?«
»Tut mir leid, deine Illusion zunichte machen zu müssen, Tom«, hielt Kuragin dagegen, »aber so einfach, wie du denkst, liegen die Dinge nicht. Im Kongress, bei der CIA, dem Militär und sogar innerhalb der gegenwärtigen Administration scheint es Kräfte zu geben, denen der Ton, den Kennedy gegenüber Chruschtschow anschlägt, viel zu moderat ausfällt. Schon einmal etwas vom Kennedy-Syndrom gehört?«
»›Krieg nur dann, wenn es sein muss‹– wüsste nicht, was es an dieser Maxime auszusetzen gäbe.«
»Du sagst es, alter Junge. Verstehst du jetzt, warum man versucht hat, mich aus dem Weg zu räumen? Sämtliche Informationen, an die ich über meinen Mittelsmann herangekommen bin, laufen auf ein und dasselbe hinaus. Chruschtschow denkt nicht im Traum daran, in die Offensive zu gehen. Nirgendwo, Tom, am allerwenigsten in Berlin. Das eigentliche Problem besteht darin, dass Ulbricht die Leute davonlaufen, so viele, dass er sich etwas einfallen lassen musste, damit die DDR nicht … wie sagt man bei euch doch gleich?«
»Den Bach runtergeht?«
»Genau. Dumm nur, dass ich die Pläne meiner Ex-Kollegen durchkreuzt habe.«
»Indem du vier von ihnen umgelegt hast, wolltest du sagen.«
»Drei, alter Junge, drei. Mach mich nicht schlechter, als ich bin.« Auge in Auge mit Sydow, zündete sich Kuragin einen kubanischen Zigarillo an, auf den er auch jetzt, da er sich in Erklärungsnöten befand, nicht verzichten konnte.
»Und Nummer vier?«
»Mein ehemaliger Führungsoffizier. Alter Haudegen, mitunter etwas impulsiv. Aber loyal. Sehr sogar. Eine echte Vaterfigur. Eben so, wie man sich einen Iren aus der Bronx vorzustellen hat.«
»Auf gut Deutsch, ihr seid in einen Hinterhalt geraten.«
»Korrekt.«
»Dieser … dieser – wie hieß dein Führungsoffizier doch gleich?«
»Brannigan. James Landon Brannigan.«
»Knapp 50, anscheinend gehbehindert, mittlere Größe?«
»Wie ich sehe, bist du von deinem Assistenten umfassend informiert worden.«
»Wieso wolltest du dich mit ihm treffen?«
»Weil er Verbindungsoffizier zu den Briten und somit der Einzige war, der die Möglichkeit besaß, mich an Bord eines Flugzeuges zu schmuggeln. Wogegen meine beiden Widersacher in der Waldbühne etwas einzuwenden hatten.«
»Frage: Kann es sein, dass es sich bei besagtem Herrn um einen kräftigen, durchtrainierten und etwa 1,80 Meter großen Schwarzen …«
»Ich muss schon sagen, Tom! Du beeindruckst mich immer wieder.« Kuragin blieb stehen, zog noch einmal an seinem Zigarillo und schnippte ihn in den Schatten, welche die von vorn angestrahlten Kolonnaden warfen. »Für den Fall, dass du es genau wissen willst, Herr Hauptkommissar: Es handelt sich um Jermaine Ross, Leiter unserer Filiale in Berlin und rechte Hand von Luciano Calabrese, seines Zeichens Leiter der Abteilung für verdeckte Operationen. Enger, wenn nicht gar engster Vertrauter des Direktors der CIA. Anders ausgedrückt: Der Befehl, mich zu töten, kam von ganz oben, nämlich von ihm, um das Kind beim Namen zu nennen. Wobei du getrost davon ausgehen kannst, dass Calabrese vorsichtig genug war, um sich die Aktion von Dulles absegnen zu lassen. Was lernen wir daraus? Um missliebige Kollegen auszuschalten, scheut man in Langley nicht davor zurück, sie durch gedungene Killer aus dem Weg räumen zu lassen. Das zum Thema Berufsethos, Tom. Pech aber auch, dass ich nicht bereit war, mich in mein Schicksal zu fügen. Begreifst du jetzt, warum ich gezwungen war, die Unterlagen bei dir zu deponieren? Ich wollte kein Risiko eingehen, das, und nur das, war der Grund. Um den Schreibtischtätern in der Heimat das Handwerk zu legen, muss man Beweise haben, sonst braucht man es gar nicht zu versuchen. Keine Ahnung, ob ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, aber für den Fall, dass ich davonkomme, können sich die Herren in Langley auf einiges gefasst machen. Darauf gebe ich dir mein Wort, alter Freund.«
»Mein lieber Schwan.« Sydow atmete tief durch, wieder halbwegs mit seinem Duzfreund versöhnt. »Jetzt wird mir einiges klar, Juri.«
»Findest du nicht, es ist an der Zeit, mich umfassend ins Bild zu setzen? Man weiß ja nie, was am heutigen Tage noch alles passiert.«
»Das sagt gerade der Richtige.« Sydow, in dessen Gesicht die vergangenen Stunden deutliche Spuren hinterlassen hatten, trat ins Licht und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach halb. Wenn alles gut ging, würden sich Lea, Veronika und er in einer halben Stunde wiedersehen. Wenn nicht, wäre er mit seinem Latein definitiv am Ende.
»Kopf hoch, Tom, wird schon werden.« Die Hand von Kuragin auf der Schulter, atmete Sydow laut und vernehmlich aus und ließ den Tag, dessen Ausklang er sich wahrlich anders vorgestellt hatte, nochmals Revue passieren. Dann überwand er sich und begann die Geschehnisse, mit denen er konfrontiert worden war, in aller Ausführlichkeit zu schildern. Einmal in Fahrt, weihte er Kuragin in sämtliche Details seiner Ermittlungen ein, angefangen bei der Spurensuche in Wannsee, bis hin zum Schicksal von Blaschkowitz und den Indizien, auf die er und seine Kollegen gestoßen waren. Kuragin hörte aufmerksam zu, unterbrach Sydow nur dann, wenn ihm etwas unklar war, und verfolgte die Schilderung des Tathergangs mit versteinerter Miene. Zu guter Letzt, im Angesicht eines immer nachdenklicheren Gesprächspartners, kam Sydow auf den Hinterhalt zu sprechen, dem er nur knapp und mit einer gehörigen Portion Glück entronnen war. Kuragin quittierte es mit einem Stirnrunzeln, um einiges schlauer, jedoch um ein Vielfaches nachdenklicher gestimmt.
»Kannst du verstehen, wenn ich allmählich die Schnauze voll habe?«, fragte Sydow, voll ohnmächtigem Zorn gegenüber denen, die ihm all dies eingebrockt hatten. »Wenn ich könnte, würde ich es diesen Kerlen heimzahlen.«
»Ruhig Blut, Tom, ich denke, es gibt da jemanden, der dir die Mühe abnehmen wird.«
»Na, du machst mir vielleicht Spaß, Junge. Wenn dieser Jemand wirklich existiert, kann es sich doch wohl nur um den … ich meine … dafür käme doch wohl nur der Präsident infrage, oder?«
»Genau.«
»Soll das ein Witz sein, Juri? Gesetzt den Fall, dir gelingt es, deine ehemaligen Kollegen zu düpieren – wie willst du es schaffen, an Kennedy ranzukommen? Ausgerechnet du, auf den mittlerweile die halbe CIA Jagd machen dürfte?«
»Keine Sorge, Tom. Das kriege ich schon ich hin.«
»Tea Time bei JFK – ich glaube, du stellst dir das alles ziemlich einfach vor.« Sydow machte ein skeptisches Gesicht. »Gesetzt den Fall, deine Rechnung geht auf – glaubst du wirklich, du hast genug in der Hand, um diesem Calabrese das Handwerk legen zu können?«
»Ich glaube es nicht nur, lieber Tom«, flüsterte Kuragin, durch ein Geräusch irritiert, das er irgendwo in der Nähe vernommen hatte. »Ich weiß es. Vorausgesetzt, meine Informationen kommen in die richtigen Hände, werden in Langley demnächst Köpfe rollen. Darauf kannst du wetten.« Kuragins Blick verengte sich. »Anstiftung zum Mord an einem CIA-Agenten, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um seinen Auftrag zu erfüllen, Mord an einem unbescholtenen Bürger, der das Pech hatte, einem Lockvogel der Firma auf den Leim zu gehen und in ein Komplott verstrickt zu werden, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen den Präsidenten gerichtet ist, und, weil es so schön war, versuchter Mord an einem CIA-Agenten, der das Pech hatte, auf Dokumente zu stoßen, die einigen Herren nicht in den Kram passen – ein dickes Sündenregister, findest du nicht auch? Und dann, als Krönung des Ganzen, der Überfall auf eine sowjetische Raketenbatterie, mit dem Ziel, sämtliche Geschosse …«