»Wie bitte? Das ist doch wohl nicht dein Ernst.«
»… auf Ziele in Westberlin abzufeuern.« Außer sich vor Erregung, schnappte Kuragin nach Luft. »Du hast richtig gehört, Tom! Auf Ziele in Berlin! Pech, dass ich meinen Ex-Kollegen zuvorgekommen bin. Oder Glück, kommt drauf an, von welcher Seite aus man die Dinge betrachtet. Du verstehst, was ich damit sagen will, alter Freund? Wenn das nicht ausreicht, um Dulles und Calabrese das Genick zu brechen, will ich Nikita Sergejewitsch Chruschtschow heißen.«
»Und ich John Fitzgerald Kennedy. Oder Fidel Castro, wenn dir das lieber ist«, kalauerte Sydow und hatte es plötzlich sehr eilig, Kuragin den Umschlag zu überreichen, auf den es anscheinend nicht nur die CIA, sondern zu allem Unglück auch noch die Stasi abgesehen hatte. Er war heilfroh, ihn endlich los zu sein, gab es doch Dinge, an denen er momentan weitaus mehr zu kauen hatte. Abgesehen von Berlin, dessen Schicksal auf Messers Schneide stand, stand die Frage, was aus seiner Familie werden würde, natürlich an erster Stelle. Für ihn, Sydow, hatte sie oberste Priorität, bedeutsamer als alles, womit er am heutigen Tage konfrontiert worden war. Sollte ihn der Herr Kriminalrat ruhig schikanieren, Prügel zwischen die Beine werfen und vom Dienst suspendieren. Es berührte ihn nicht. Derzeit gab es Wichtigeres zu tun, weit Wichtigeres sogar.
»Freut mich, dass dir dein Humor nicht abhanden gekommen ist«, erwiderte Kuragin, nachdem er das Kuvert in Empfang genommen, ins Licht getreten und einen neuerlichen Blick auf die Uhr geworfen hatte. »20 vor zwölf. Ich muss jetzt wirklich los. Höchste Zeit, dass der Umschlag in die richtigen Hände …«
»Finde ich auch.«
Beim Klang der Stimme, die ihnen aus der Dunkelheit entgegenhallte, waren Sydow und Kuragin zunächst wie erstarrt. Vor allem Letzterer, dem Geschehen bereits um Stunden voraus, war so überrascht, dass er sich nicht von der Stelle rührte.
»An Ihrer Stelle, Herr Kommissar, würde ich die Finger von meiner Waffe lassen. Und was Sie betrifft, Kuragin: Her mit dem Umschlag, aber ein bisschen plötzlich!«
»Die Genossen von der Staatssicherheit – welch unerwartete Ehre.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Kuragin«, erwiderte die Gestalt, welche soeben aus dem nahen Birkenwäldchen auftauchte, auf ihn zu trat und die Hand nach dem Umschlag ausstreckte. Die Tokarew in seiner Hand sprach eine deutliche Sprache, was Sydow jedoch völlig kalt zu lassen schien. »Ich darf dann wohl bitten, oder?«
»Überlegen Sie sich genau, was Sie tun.«
»Heißt das, Sie wollen mir drohen?«, zischte Bartosz, die eine Körperhälfte im Licht, welches durch die Kolonnaden flutete, die andere im Schatten, von wo aus Sydow jede seiner Bewegungen beobachtete. Im Gegensatz zu Kuragin blieb er erstaunlich ruhig, was dem Oberleutnant der Stasi, dessen Blick zwischen ihm und Kuragin hin und her pendelte, aber nicht aufzufallen schien. »Na los, her mit dem Umschlag!«
»Zu Ihrer Information, Genosse: Über die Pläne Ihrer Regierung, so sie in die Tat umgesetzt werden sollten, wissen nicht nur wir beide Bescheid.«
Bartosz ließ sich nicht beirren. »Ich zähle jetzt bis drei«, flüsterte er, nur noch wenige Meter von Kuragin entfernt. »Sollten Sie bis dahin keine Vernunft angenommen haben, wird mein Begleiter, der unweit von hier Stellung bezogen hat, das Feuer auf Sie eröffnen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an, Genosse. Freiwillig werde ich Ihnen den Umschlag jedenfalls nicht herausrücken.«
»Dann eben nicht. Schade, ich hätte gern noch ein wenig mit Ihnen geplaudert.«
»Um mich anschließend zu liquidieren? Vergessen Sie’s, Towarischtsch.«
Kuragins Widersacher schoss die Zornesröte ins Gesicht. »Her mit dem Umschlag!«, kochte Bartosz, weit entfernt von dem Gentleman, als den er sich mit Vorliebe präsentierte. »Oder Sie werden ihr blaues Wunder erleben.«
»Oder Sie, kommt drauf an, von welcher Seite man die Dinge betrachtet.«
Puterrot vor Zorn, wirbelte Bartosz herum, riss seine Tokarew in die Höhe und richtete sie auf Sydows Stirn. »Na schön«, knirschte er, ein wildes Zucken im Gesicht. »Dann sind Sie eben als Erstes dran. Es sei denn, der Herr Kriminalhauptkommissar erklärt sich bereit zu kooperieren. Falls nicht, sehe ich mich gezwungen, Sie an Ort und Stelle zu liquidieren. Was ist, Sydow – haben Sie etwa die Sprache …«
Es sollte die letzte Drohung sein, die Mischa Bartosz, Oberleutnant in Diensten der DDR-Staatssicherheit, von sich gab. Die letzte in einer langen Reihe, welche sich im Verlauf seiner elfjährigen Karriere angesammelt hatte. Der Tod traf ihn unvorbereitet, so plötzlich, dass Bartosz selbst dann, als die Kugel in seinen Schädel eindrang, erstaunlich lang mit aufgerissenem Mund stehen blieb. Etliche Sekunden später erst, die Pistole immer noch in der Hand, schwand die Erstarrung, welche ihn befallen hatte, und ein Laut löste sich von seinen Lippen, ein Geräusch, bei dem es einem eiskalt den Rücken hinunterlief. Daraufhin ließ er seine Pistole fallen, verlor die Balance und torkelte auf Sydow zu, der, wie gebannt durch das bizarre Spektakel, erst im letzten Moment zur Seite trat und Zeuge wurde, wie Bartosz unweit von ihm zusammenbrach.
Der Schusswechsel, der im gleichen Moment begann, dauerte nicht lange, alles in allem nur wenige Sekunden. Danach lag der Stasi-Agent, welcher die Szene aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, ebenfalls am Boden, von einer Kugel getroffen, die aus kurzer Entfernung auf ihn abgefeuert worden war.
*
»Kompliment, Kroko«, stieß Sydow voller Bewunderung für seinen Assistenten hervor, den Daumen demonstrativ nach oben gereckt. »Hab gar nicht gewusst, wie treffsicher du bist.«
»Man tut eben, was man kann«, erwiderte Eduard Krokowski und steckte seine Waffe ins Halfter zurück, bemüht, nach außen hin kühl und abgeklärt zu wirken. »Apropos. Du tust gut daran, Naujocks eine Flasche Schampus zu spendieren. Wenn du dich schon bedankst, dann bei ihm.«
Spürbar entspannt, zog Sydow seinen Assistenten am Ohr und drückte dem Leiter der Spurensicherung die Hand. »Gute Arbeit, Waldi«, spendete er demonstrativ Lob, wobei sich die Erleichterung, die er empfand, allerdings in Grenzen hielt. »Ohne dich und Kroko wären wir glatt aufgeschmissen, was, Juri?«
»Das kannst du aber laut sagen!«, verkündete Kuragin im Brustton der Überzeugung. Und fügte, aufgrund der unerwarteten Wendung nach wie vor ein wenig perplex, mit hintergründigem Lächeln hinzu: »Daran erkennt man eben den Profi, Tom. Auf die Idee, dass dein Telefon abgehört wird, konnte wirklich nur ein geborener Kriminalist kommen. Schade, dass ich nicht eingeweiht gewesen bin. Sonst hätte ich das Spektakel noch viel mehr genießen können.«
»Hoch gepokert und gewonnen!«, erwiderte Sydow und zog es vor, über Kuragins Vorwurf hinwegzuhören. »Pech für die Genossen, dass sie sich ihrer Sache zu sicher waren. Und überhaupt – wer weiß, was passiert wäre, wenn Kroko und Waldi nicht zur Stelle gewesen wären.« Sydow zog Krokowskis Fliege glatt und tätschelte ihm die Wange. »Pünktlich wie die Maurer. Und treffsicherer als John Wayne. So was macht euch beiden keiner …«
»Euch dreien, wenn schon, denn schon«, meldete sich Heribert Peters zu Wort, über den Leichnam von Bartosz gebeugt und dermaßen in seine Arbeit vertieft, dass es den Anschein hatte, er befände sich in der Gerichtsmedizin. Und packte die Gelegenheit beim Schopf, um eine erneute Kostprobe seines Humors zu liefern: »Macht zusammen ein halbes Dutzend, wenn ich mich nicht irre.«