»Sieben, Heribert, sieben«, korrigierte ihn sein Freund und wies mit dem Daumen über die rechte Schulter. »Ein Unschuldiger, zwei von der Stasi, vier von der CIA. Macht zusammen sieben.« Sydow machte ein nachdenkliches Gesicht. Mit wie vielen Toten er im Verlauf seiner Tätigkeit konfrontiert worden war, konnte er beim besten Willen nicht sagen, und wenn er ehrlich war, wollte er es auch nicht genau wissen. Fest stand, dass es zu viele gewesen waren, entschieden zu viele sogar. Sydow senkte den Blick und fuhr mit der Handfläche über die Stirn. Die bleierne Müdigkeit, welche ihn umfing, kam nicht von ungefähr. Wäre die Sorge um Lea nicht gewesen, welche alles andere überwog, hätte er sich in seinen Aston Martin gesetzt und wäre verduftet. »Hoffen wir, dass es demnächst nicht noch mehr werden.«
»Denkst du wirklich, die da drüben machen ernst?«
»Ulbricht und Genossen? Darauf kannst du wetten, Waldi«, antwortete Sydow, trat zu Peters und fragte: »Alles dabei, worum ich dich gebeten habe?«
Peters rappelte sich auf und nickte. »Aber klar doch«, versicherte er und deutete auf den Aktenkoffer, welchen er direkt neben der Leiche abgestellt hatte. »Hier, bedien dich – alles drin, was das Herz begehrt. Angaben über die Todesursache der Getöteten, speziell über diejenige von Blaschkowitz. Einschließlich der Fotos, die ich im Verlauf des heutigen Tages geschossen habe. Rekonstruktion des Tathergangs in der Waldbühne. Forensische Gutachten.« Während er sprach, griff Peters in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Schwarz-Weiß-Aufnahme hervor und reichte sie an Sydow weiter. »Einer der drei Toten von vorhin. Sieht so aus, als sei in der Waldbühne ganz schön was los gewesen.«
»Kann schon sein«, erwiderte Sydow lapidar, mit den Gedanken offenbar weit weg, warf er einen Blick auf das Foto und drückte es Kuragin in die Hand. »Ich nehme an, Juri, du hast den Herrn schon einmal gesehen.«
»Das kannst du aber laut sagen«, bekräftigte der Angesprochene und ließ den Blick zwischen der Aufnahme, seinem Gegenüber und dem Koffer hin und her pendeln. »Was dagegen, wenn ich mir eure Unterlagen kurz ausleihe?«
»Darf man fragen, was du unter ›kurz‹ verstehst?«
»Ein paar Jahre vielleicht, mehr nicht«, flachste Kuragin, nickte Peters dankend zu und hatte es auf einmal eilig, die Schwarz-Weiß-Aufnahme in seinem Sakko verschwinden zu lassen. »Und der Koffer?«, lauerte er. »Was habt ihr damit …?«
»Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses«, kam Sydow ihm zuvor, ein hintergründiges Lächeln im Gesicht. »Mit den besten Empfehlungen der Kripo Berlin. Greif zu, sonst überlegen wir es uns noch anders.«
Kuragin ließ sich nicht lange bitten. »Wenn das nicht ausreicht, um den Kerlen das Handwerk zu legen, dann weiß ich nicht mehr!«, frohlockte er. Und beeilte sich hinzuzufügen: »So, jetzt muss ich aber wirklich los. Sonst … sonst … was ist denn das?«
»Die Schlüssel für meinen Aston Martin«, antwortete Sydow, ein Lederetui in der rechten Hand. »Alte Klapperkiste, steht drüben vor dem Bahnhof. Damit dir nicht die Felle davonschwimmen, falls es das ist, was du gerade sagen wolltest.«
»Du denkst aber wirklich an alles, Tom«, lobte Kuragin, bemüht, sich das Vibrato in seiner Stimme nicht anmerken zu lassen. »Danke für alles – auf bald.«
»Ich habe zu danken. Und Berlin natürlich auch«, entgegnete Sydow und wies mit dem Kinn in die Richtung, wo sich der Lehrter Bahnhof befand. »Mach’s gut, alter Tschekist, und lass von dir hören.«
»Hier – als Entschädigung.«
»Für mich?« Völlig perplex, starrte Sydow die mit dem Vermerk ›Streng geheim!‹ versehene Liste, welche Kuragin urplötzlich in Händen hielt, mit weit aufgerissenen Augen an. »Wo hast du denn die aufgetrieben?«
»Dienstgeheimnis!«, wehrte Kuragin lächelnd ab und ergänzte: »Man beachte den IM41 mit der Nummer sieben. Dürfte dir bekannt vorkommen, oder?«
»Und ob.« Je länger er das Dossier anstarrte, auf dem die Namen von Stasi-Spitzeln bei der Westberliner Polizei aufgelistet waren, desto bleicher, bestürzter und niedergeschlagener wurde er. »Wie aufmerksam von dir.«
Kuragin wollte etwas erwidern, drehte sich jedoch auf dem Absatz um und eilte davon, vorbei an einem der beiden T 34-Panzer, welche das Ehrenmal an der Straße des 17. Juni flankierten. Am Ende der Freitreppe angekommen, hielt er kurz inne, gab seinem Impuls, sich erneut umzudrehen, allerdings nicht nach und verschwand so schnell, dass es schien, er habe sich in Luft aufgelöst.
»Und was ist mit dem da?«, murmelte Peters mit Blick auf Bartosz, aus dessen Schädel immer noch Blut sickerte. Und beantwortete seine Frage gleich selbst: »Am besten wir deklarieren ihn und seinen Kumpel als Opfer einer Schießerei Zuhälter-Milieu, findest du nicht auch?«
»Gute Idee«, pflichtete ihm Sydow bei und flüsterte Krokowski etwas ins Ohr, woraufhin dieser nickte, Naujocks einen Wink gab und sich gemeinsam mit ihm entfernte. »Bis bald, Leichenfledderer – ich habe zu tun!«
28
Hyannis Port, Massachusetts / USA
| 18.20 h Ortszeit, 0.20 h Berliner Zeit
Er hatte genug von familiären Problemen, weshalb er beschloss, vor dem Dinner noch einen Spaziergang zu machen. Gerade eben hatte ihm Jackie wieder einige Vorhaltungen gemacht, da tat ein wenig Seeluft ganz gut. Es gab Tage, an denen wirklich nicht gut Kirschenessen mit ihr war, der heutige Samstag, so stand zu befürchten, war einer davon. Vorhin, auf der Terrasse in der Irving Avenue, waren ganz schön die Fetzen geflogen, woran er selbst nicht ganz schuldlos war.
Was seine Affären betraf, hatte er das Zählen allmählich aufgegeben, für ihn, den passionierten Schürzenjäger, war es noch nie sonderlich schwierig gewesen, eine Frau für sich zu gewinnen. Jackie, mit der er seit knapp acht Jahren verheiratet war, war ihm natürlich bald auf die Schliche gekommen, groß gekümmert hatte es ihn nicht. Im Gegenteil. Seine Eroberungen, unter ihnen ihre Pressesekretärin, die Schwägerin eines engen Freundes, Sekretärinnen im Weißen Haus und jede Menge adrette Damen, an deren Namen er sich beim besten Willen nicht entsinnen konnte, hatten Jackie regelrecht zur Weißglut getrieben.
An Anlässen, sich von ihm scheiden zu lassen, hatte folglich kein Mangel geherrscht, was seine Frau allerdings nicht weiter verfolgte. Wahrscheinlich war ein Leben im Luxus, wofür ihre Privatschatulle bei Weitem nicht ausreichte, allemal attraktiv genug gewesen, um hin und wieder ein Auge zuzudrücken. Der Präsident lächelte gequält. Fast die Hälfte des Geldes, das Jackie buchstäblich zum Fenster hinauswarf, ging für Kleider drauf, im laufenden Jahr bereits so viel, dass ihre Ausgaben sein Jahressalär in Höhe von 100.000 Dollar mit hoher Wahrscheinlichkeit überschreiten würden.
Im Vergleich zu den Problemen, mit denen er sich in seiner Eigenschaft als Präsident herumschlagen musste, waren Jackies Extravaganzen weniger dramatisch. Das meiste Kopfzerbrechen bereitete ihm derzeit Berlin, und er hätte viel dafür gegeben, wenn man ihm eine realistische Einschätzung der Lage geliefert hätte. Auf Dulles oder gar Calabrese konnte man sich nicht verlassen, weder auf sie noch auf die gesamte CIA. Wenn es eine Lehre gab, die er aus dem Schweinebucht-Desaster gezogen hatte, dann diese: Die Herren aus Langley, allen voran seine beiden Intimfeinde, waren lediglich auf ihren eigenen Vorteil aus. Wäre er dazu imstande gewesen, hätte er sie längst vor die Tür gesetzt und einen Mann seines Vertrauens auf den Chefsessel bei der CIA gehievt. Liebend gern sogar. Aus Mangel an Beweisen war er jedoch zur Untätigkeit verdammt, was ihm beträchtlich auf den Magen geschlagen hatte.
»Mist, verdammter!« Der Präsident bückte sich, hob einen Kieselstein auf und schleuderte ihn in hohem Bogen ins Meer. Genau das war der Punkt. Um bei der CIA aufzuräumen, musste er etwas in der Hand haben. Sonst würde mit seinen Plänen, möglichst bald ein Großreinemachen zu veranstalten, nicht weit kommen. Und wenn es etwas gab, das er sich momentan nicht leisten konnte, dann eine neuerliche Schlappe, weder im Privatleben noch in der großen Politik. Watch your back, Jack!, lautete folglich die Devise, gerade jetzt, wo es an allen Ecken und Enden zu kriseln begann.