Выбрать главу

Ohne die Gewitterwolken zu beachten, welche sich über dem Nantuckett-Sund zusammenbrauten, streifte der Präsident seine Segelschuhe ab, krempelte das Hosenbein hoch und watete durch das flache Wasser, das Rauschen der Brandung im Ohr, welche sich an den Riffen vor der Küste brach. Als Kind hatte es ihn immer wieder hierher gezogen, an die Strände von Massachusetts mit ihrem feinkörnigen weißen Sand. Hier hatte er Segeln gelernt, Tennis gespielt, im Kreise seiner Familie zahllose Wochenenden verbracht. Hier hatte er die wildesten Partys weit und breit gefeiert, die hübschesten Mädchen aufgerissen, hin und wieder einen über den Durst getrunken. Hier war er stets Jack gewesen, eines von insgesamt neun Geschwistern, die auf dem weitläufigen Anwesen seines Vaters herumtobten. Heute aber, seit einem knappen Dreivierteljahr, war er Präsident der USA, und es gab Tage, an denen er sich fragte, ob der Weg, den er beschritten hatte, der richtige für ihn war.

»Mister President, Mister President – ein Anruf für sie.« Also wirklich. Keine 100 Meter vom 24.000 Quadratmeter großen Anwesen der Kennedys entfernt, ließ der Präsident seinen Kopf nach vorn sacken und hielt resigniert inne. Nicht einmal hier, geschützt vor neugierigen Blicken, hatte man seine Ruhe. Nicht einmal am Samstagabend. »Es ist dringend!«

»So dringend, dass es nicht bis Montagmorgen warten kann?«

Der stellvertretende Stabschef des Präsidenten, ein Hüne mit baltischen Wurzeln, der ebenso gut hätte Footballprofi werden können, schlug die Augen nieder. »Mister President, Sir –«, druckste er herum. »Der stellvertretende Leiter der BOB42 behauptet, er müsse unbedingt mit Ihnen reden.«

»Gar nichts muss er, es sei denn, der dritte Weltkrieg bricht demnächst aus. Egal, um was es sich handelt – ich bin nicht zu sprechen, verstanden? Weder für ihn noch für seinen Chef.«

»Genau das ist das Problem, Sir.«

»Was denn? Mein Gott, Andy, machen Sie es nicht so …«

»Irgendwas stimmt da drüben nicht, Sir. Was genau, wollte mir McCleod allerdings nicht sagen.«

»Und sein Boss, was ist mit dem?«, wollte Kennedy wissen. »Zu beschäftigt, um sich Zeit für den Präsidenten zu nehmen?«

»Keine Ahnung«, gestand der baltische Kleiderschrank mit betretener Miene ein. »Sieht so aus, als ginge es in Berlin drunter und drüber.«

»Den Eindruck habe ich allerdings auch!«, vollendete Kennedy, im Begriff, sich auf den Rückweg zur 35-Zimmer-Villa seines Vaters zu machen, deren dreigiebeliges Dachgeschoss schon von Weitem zu erkennen war. »Wenn wir gerade von Durcheinander reden – schon etwas von Calabrese gehört?«

»Via Fernschreiber. Er lässt ausrichten, er sei gegen Mittag hier – wie von Ihnen gewünscht, Sir.«

»Gut zu wissen«, stieß Kennedy in einem Anflug von Sarkasmus hervor, blieb stehen und ließ den Blick über die sich mit rasender Geschwindigkeit nähernde Gewitterfront schweifen. »Höchste Zeit, dass ich mir den Herrn zur Brust nehme!«

SIEBEN

›Als es am 13. August gegen fünf Uhr zu dämmern begann, waren die ostdeutschen Baubrigaden und ihre bewaffneten Eskorten bereits bei der Arbeit. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite gewesen, und so hatten sie ungestört an die Arbeit gehen können. Honeckers Triumph mit der ›Operation Rose‹ war unübersehbar.‹

(Aus: Frederick Taylor, Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. München 2009, S. 208)

DORNEN

Berlin / Hyannis Port, Massachusetts

(13.08.1961)

29

Berlin-Mitte, Brandenburger Tor | 01.05 h

Es war genau ein Uhr, als das Licht ausging. Und es war Tom Sydow, dem in diesem Moment klar wurde, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Einen Fehler, der nicht mehr wiedergutzumachen war.

Vor gut einer Stunde, bei seiner Ankunft vor dem Brandenburger Tor, war er zwar nervös, aber dennoch voller Zuversicht gewesen. Lea wusste genau, was sie tat und würde sich und Veronika nicht in Gefahr bringen. Besser, sie würde nichts überstürzen, kein unnötiges Risiko eingehen und angesichts der Gefahr, in die sie sich begeben hatte, ruhig und besonnen bleiben. Nur so würde es ihr gelingen, der Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen Ordnungshüter zu entgehen und Veronika über die Grenze zu schleusen. Lea würde schon nichts passieren, hatte er sich selbst Mut gemacht, ganz gleich, wie riskant ihr Vorhaben war.

Kurz nach eins, als die Straßenbeleuchtung am Brandenburger Tor plötzlich erlosch, war seine Zuversicht jedoch wie weggeblasen. Zum Glück war da noch Karlheinz Pasewalk, ein alter Bekannter aus den Tagen der Blockade, vor dessen Imbisswagen er Position bezogen und den Sektorenübergang im Auge behalten hatte. Nach Bouletten und Berliner Kindl war ihm zwar nicht zumute, aber da es sich bei Fluppen-Kalle um einen waschechten Berliner mit beträchtlichem Erzähltalent handelte, hatte er es irgendwie geschafft, nicht durchzudrehen.

Zehn Minuten später, als die ersten gepanzerten Fahrzeuge auftauchten, war das Gespräch, in dessen Verlauf Sydow immer einsilbiger geworden war, jäh beendet. Beide, Sydow fast noch mehr als Pasewalk, waren zunächst wie paralysiert, und es dauerte mehrere Minuten, bis der Boulettenverkäufer, alles andere als auf den Mund gefallen, seine Sprache wiederfand.

»Ick gloob, mir tritt ’n Gaul!«, murmelte er vor sich hin, einen Zigarrenstummel im Mund, der sich allmählich in seine Bestandteile auflöste. »Die roten Socken da drüben machen tatsächlich ernst.«

In der Tat, sie machten tatsächlich ernst. Nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, wandte sich Sydow abrupt ab und bewegte sich wie in Trance auf den Sektorenübergang zu. Wie vor den Kopf geschlagen, loderte unbändiger Zorn in ihm empor, wäre Lea nicht gewesen, nach der er verzweifelt Ausschau hielt, hätte er vermutlich die Beherrschung verloren.

Und so nahmen die Ereignisse ihren Lauf, als sei das, was sich jenseits der Sektorengrenze abspielte, eine Selbstverständlichkeit. Sydow fehlten die Worte, und er fragte sich, wie es sein konnte, dass die Vorbereitungen für dieses Überrumpelungsmanöver geheim geblieben waren. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und umgeben von einer wachsenden Menge, die aus ihrer Verbitterung keinen Hehl machte, ließ er den Blick über die Köpfe seiner Mitbürger schweifen und ballte die Rechte zur Faust. Ein Panzerwagen nach dem anderen, Wasserwerfer und kolonnenweise Betriebskampfgruppen, die automatischen Waffen griffbereit vor der Brust. Uniformierte hinter Stacheldraht, so weit das Auge reichte, dicht an dicht, Dutzende, wenn nicht gar Hunderte. Regungslos, starr, zu allem entschlossen. Auf westlicher Seite dagegen nur hier und da ein Polizist, von den Briten, der angeblichen Schutzmacht, keine Spur.

Sydow stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Scheiß Briten!«, fluchte er halblaut vor sich hin, und das, obwohl seine Mutter Engländerin war. Ausgerechnet jetzt, im Angesicht der nahenden Katastrophe, schreckten die Alliierten davor zurück, Flagge zu zeigen. Ausgerechnet jetzt, wo man sie vielleicht hätte abwenden können. Sydow geriet ins Grübeln. Nun ja, mit Betonung auf ‚vielleicht‘. Je länger er nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass es nur eine Alternative zum sich anbahnenden Szenario gab.

Und diese Alternative hieß Krieg.

Hier Ami, dort Russki, lautete folglich die Devise, keiner, so schien es, wollte dem anderen ins Gehege kommen. Für Sydow nichts als blanker Hohn, wusste er doch genau, dass man eine Stadt nicht so einfach aufteilen konnte. Allein der Versuch, dies zu tun, war für ihn ein Verbrechen. Ein Gewaltakt, der seinesgleichen suchte.