»Du trinkst zu viel, Andris«, ließ der Anrufer, offenbar nicht mehr ganz jung und mit kaum wahrnehmbarem russischen Akzent, seelenruhig verlauten und erweckte den Anschein, als habe er es mit seinem kleinen Bruder und nicht etwa mit einem der einflussreichsten Männer im Weißen Haus zu tun. »Wenn du so weitermachst, gerätst du auf die schiefe Bahn. So wie damals, als ihr euch mit uns angelegt habt.«
»›Mit uns‹?«, echote Peterson, bemüht, sich die Verwirrung, welche Besitz von ihm ergriff, nach Möglichkeit nicht anmerken zu lassen. »Darf man fragen, wer Sie sind?«
»Ich muss schon sagen, Andris, du enttäuscht mich sehr«, lamentierte der Anrufer mit unverhohlenem Spott. »Und das ausgerechnet mir, nach allem, was ich für dich getan …«
Urplötzlich wie elektrisiert, ging ein Ruck durch Petersons Körper, und während sein Pendant weitersprach, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
»… habe. Oder hast du die Zeit, in der dein Leben an einem seidenen Faden hing, etwa schon vergessen?«
»Nein.« Wie konnte er auch. Um zu vergessen, was sich der NKWD hatte einfallen lassen, um ihn und seine Kameraden gefügig zu machen, hätte er sich nicht nur alle paar Wochen, sondern jeden Tag bis zum Rand volllaufen lassen müssen. Dunkelhaft, Schlafentzug, verschärftes Verhör und was es sonst noch alles gab. So etwas konnte man nicht vergessen. Ein Lebtag nicht. »Auf keinen Fall.«
»Freut mich zu hören. Darf man fragen, wem es zu verdanken ist, dass du im Gegensatz zu deinen patriotisch angehauchten Gefährten nicht an die Wand gestellt worden bist?«
Man durfte. Die Antwort lautete: Einem NKWD-Leutnant, der es nicht fertiggebracht hatte, einen 15-Jährigen zu exekutieren und im Wald verscharren zu lassen.
»Gut zu wissen, dass deine Erinnerung noch funktioniert!«, frohlockte der Anrufer, an einer Antwort offenbar nicht übermäßig interessiert. »Wenn wir gerade dabei sind, Andy – weshalb bist du eigentlich bei der CIA ausgestiegen?«
»Gegenfrage. Weshalb bist du immer noch mit von der Partie? Wo du doch weißt, welcher Mittel man sich in der Firma mittlerweile bedient.«
»Du wirst lachen, Andris – genau deswegen rufe ich an.«
»Was willst du, Juri?«
»Warum denn so barsch, Chief of Staff? Etwas mehr Freundlichkeit stünde dir gut zu Gesicht.«
»Sag, was du willst, Juri. Du rufst doch nicht an, um dich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen, oder?«
Kuragin gluckste. »Immer noch der Alte, wie man hört. Nun gut, Andy. Was mein Anliegen betrifft, würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du eine kalte Dusche nähmest, dich anzögest und dich anschließend auf schnellstem Wege zur nächsten Telefonzelle begäbest. Warum, muss ich dir wohl nicht groß erklären?«
»Doch.«
»Es geht um einen alten Bekannten, Andy. Aus gemeinsamen Tagen bei der CIA.« Um die Wirkung seiner Worte zu steigern, hielt Kuragin kurz inne. Dann sagte er: »Einen Freund, für den wir beide absolut nichts übrig haben. Was, wie ich wohl nicht extra betonen muss, auch für deinen obersten Dienstherren gilt.«
»Heißt das etwa, du hast etwas gegen … gegen …«
»Du wirst erfreut sein, Andris Peterson. Ich habe so viel gegen ihn in der Hand, dass es möglich sein wird, unseren Freund aus alten Tagen aus dem Amt zu katapultieren. Und nicht nur ihn, Deputy Chief of Staff, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Im Ernst?«
»Traust du mir etwa nicht, Andyboy?«
»Gegenfrage: Wie kann ich dich erreichen, Juri?«
»Wusste ich’s doch, dass dich die Sache interessiert!«, triumphierte Kuragin und fügte eilig hinzu: »Unter der Nummer in Reykjavik, die ich dir jetzt durchgeben werde. Glaub mir, mein Freund, du und Mister Kennedy werdet es nicht bereuen!«
33
Berlin-Friedrichshain, Oberbaumbrücke
| 10.50 h
»Einen Moment noch«, sagte der Stasi-Beamte neben ihr, und er sagte es so, dass sie dachte, ihr würde das Herz stehen bleiben. Dort drüben, auf der anderen Seite der Spree, wartete die Freiheit auf sie, ein Schritt noch, und die Hölle, durch die sie gegangen war, würde für immer hinter ihr liegen. Vorausgesetzt, die beiden Stasi-Schläger, welche sie auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke aus dem Wagen gezerrt, in ihre Mitte genommen und bis hierher eskortiert hatten, würden sie gewähren lassen. Und genau danach sah es im Moment aus.
Doch sie irrte. Hier handelte es sich nicht um eine der zahlreichen Schikanen, mit denen sie in den zurückliegenden Stunden konfrontiert worden war. Ein Blick auf die andere Seite, und Lea dämmerte, was der Grund für das Zaudern ihrer Bewacher war.
Kaum hatte sie innegehalten, tauchte auf der Kreuzberger Seite ein Mannschaftswagen der Westberliner Polizei auf und rollte im Schritttempo auf die Brückenmitte zu. Dort blieb er mit laufendem Motor stehen, unmittelbar vor der Demarkationslinie, das Heck der Sperre zugewandt, mit dem die Fahrbahn blockiert worden war. Die beiden Stasi-Beamten, nach wie vor ganz auf sie fixiert, zuckten nicht einmal mit der Wimper, woraus Lea schloss, dass die Aktion von langer Hand vorbereitet worden war.
»Einen schönen Tag noch!«, hörte sie kurz darauf den Beamten links von ihr sagen, nachdem er ihr die Fesseln abgenommen und sie eingesteckt hatte. »Glück gehabt, würde ich sagen.«
Anstatt zu antworten, warf Lea einen kurzen Blick nach links, wo sich soeben die Hecktür des Mannschaftswagens öffnete. Insgesamt sieben Männer, allesamt in Zivil, sprangen kurz danach heraus, hielten den Blick gesenkt und zwängten sich durch die Gasse, welche extra für sie freigeräumt worden war, vorbei an spanischen Reitern, Betonblöcken und Hindernissen aus Stacheldraht. Die Szene hatte etwas Bizarres und zutiefst Beklemmendes an sich, doch bevor sich Lea von ihrer Verblüffung erholt hatte, war der Spuk beendet und die Männer in einem Pulk von Volkspolizisten, welcher sie von allen Seiten umringte, verschwunden.
»Wie gesagt – gerade noch mal Glück gehabt.« Es war nur ein Schritt, der sie von der Freiheit trennte. Nur ein einziger Schritt, und die schnurgerade weiße Linie, welche die beiden Mitteltürme, das U-Bahn-Viadukt und die monumentale Backsteinverkleidung aus der Kaiserzeit in zwei gleich große Teile zerschnitt, wäre überwunden.
Für immer.
Hin und her gerissen zwischen Vorfreude und Angst, verharrte Lea auf der Stelle. In nur 100 Metern Entfernung, auf der anderen Seite der Spree, konnte sie die hoch aufragende Gestalt ihres Mannes sehen, umgeben von MPs, Schaulustigen und einem ganzen Pulk von Anwohnern, welche die Vorgänge jenseits des streng bewachten Grenzstreifens mit banger Miene verfolgten. Einen Kopf größer als die Umstehenden, war Toms Blick auf die Mitte der Brücke geheftet, und wäre der Kordon aus Uniformierten nicht gewesen, welche die Menge in Schach hielten, hätte es vermutlich kein Halten für ihn gegeben.
So aber blieb Tom einfach stehen und hielt Ausschau nach ihr, wartete, bis sie, Lea, den alles entscheidenden Schritt tun würde. Schwindel ergriff sie, und ihr Herz pochte so heftig gegen die Rippen, dass sie kaum noch Luft bekam. Vor lauter Freude wäre sie am liebsten losgerannt, hatte sie doch mit dem, was gleich geschehen würde, nicht im Traum gerechnet. Aber da war nicht nur dieses Hochgefühl, diese unbändige Freude, welche die Spuren der letzten Nacht auf einen Schlag vertrieb. Da war auch Angst in ihr, mehr als ihr lieb war, und sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, um sie zu unterdrücken. Die Sorge um ihre Tochter war allgegenwärtig, daran würde sich weder jetzt noch in Zukunft etwas ändern.
»Auf geht’s – oder haben Sie sich’s anders überlegt?« Die Stimme des Stasi-Beamten, welcher ihr die Handschellen abgenommen hatte, klang exakt so, wie sich ihr Besitzer, ein unscheinbarer Anzugträger um die 30, nach außen hin präsentierte. Abweisend, kaltherzig und bar jeglicher Emotionen. »Wenn ja, wäre es mir eine Freude, Sie dorthin zu verfrachten, wo Sie gerade hergekommen sind. Also, was ist? Haben Sie vor, hier Wurzeln zu schlagen, oder sehen Sie endlich zu, dass Sie verschwinden?«