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Trotz der Schmerzen, die ihm mehr denn je zu schaffen machten, erhob sich Kennedy aus seinem Sessel, wandte sich ab und trat ans äußere der drei Fenster, von denen aus man einen ungehinderten Blick auf den Rosengarten genoss. Es dämmerte, und die Sträucher, Hecken und Zierpflanzen waren in bläulich rotes Licht getaucht, das ins Purpurfarbene mäanderte. Die Schatten der Nacht breiteten sich unaufhaltsam aus, mit einer Geschwindigkeit, dass ihn das Gefühl beschlich, die Zeit laufe ihm davon. »Ich darf doch wohl annehmen, Luke, Sie sind sich im Klaren, wozu das unweigerlich führen wird«, antwortete der Präsident und nahm ein Bild zur Hand, das seine Frau Jackie, seine Tochter und seinen exakt sieben Monate alten Sohn John zeigte. »Nämlich auf einen Krieg, der in kürzester Zeit eskalieren wird. Gut möglich, dass es dabei zum Einsatz von Atomwaffen kommen könnte. Die Frage ist, ob wir wirklich so weit gehen wollen, Gentlemen.«

»Wenn Sie auf meine Meinung Wert legen, Sir: ja.« Calabreses voluminöser Rumpf straffte sich, und nach einem weiteren Seitenblick zu Dulles, der kaum merklich nickte, fügte er hinzu: »Über kurz oder lang, Mister President, wird es zum Showdown mit den Russen kommen. Wenn nicht in Berlin, dann eben anderswo. Besser jetzt, wo wir die öffentliche Meinung hinter uns haben, als irgendwann in ferner Zukunft. Wir werden es darauf ankommen lassen müssen, Sir. Ob wir wollen oder nicht.«

»So, meinen Sie.« Kennedy warf einen erneuten Blick auf das Bild und stellte es wieder auf den Tisch vor dem Fenster, wo sich eine Reihe von Erinnerungsstücken befand, unter anderem ein Modell der ›Resolute‹ und mehrere Fotos seiner Familie. Im Anschluss daran wandte sich der Präsident wieder dem abendlichen, von schattenhaftem Zwielicht überlagerten Panorama zu und seufzte leise vor sich hin. Aus der Traum!, sinnierte er, vorbei der Traum vom Camelot15 Amerikas, dem Weißen Haus, wo sich Intellektuelle, Literaten, Stars und Sternchen gleich reihenweise die Klinke in die Hand gaben. Wenn man Dulles und Calabrese so reden hörte, war der dritte Weltkrieg nicht mehr fern, eine Frage von Wochen oder nur wenigen Tagen. Das wiederum würde bedeuten, dass es weder Sieger noch Verlierer, Gewinner oder Unterlegene geben würde. Bei einem militärischen Konflikt, wie ihn diese beiden Vogelscheuchen da hinter ihm zu riskieren bereit waren, würde es Millionen Tote geben, beileibe nicht nur in Berlin. Und deswegen, nicht nur um der Berliner willen, würde er alles tun, um ihn zu verhindern. Selbst auf die Gefahr hin, als nachgiebig, schwach oder Feigling dazustehen.

Ende der Diskussion.

»Schluss mit der Taktiererei, Mister President«, meldete sich Dulles, der sein Missfallen kaum noch verbergen konnte, in aller Entschiedenheit zu Wort. »Das ist meine – genauer gesagt unsere – feste Überzeugung.« Dulles zog die Stirn in Falten und richtete den Blick auf den Präsidenten, der mit verschränkten Armen zum Fenster hinaussah. »Was mich zu der Frage bringt, welche Strategie wir in Bezug auf eine mögliche Eskalation der Lage in Berlin einschlagen sollten.«

»Gar keine.«

»Wie bitte?«

»Sie haben richtig gehört, Allen: gar keine.« Kennedy drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte auf das Sofa am anderen Ende des Raumes zu, von wo aus ein sichtlich indignierter CIA-Direktor jede seiner Bewegungen verfolgte.

»Habe ich Sie gerade eben richtig verstanden, Sir – Sie …«

»Haben Sie. Bevor mir keine stichhaltigen Beweise dafür vorliegen, was die Russen im Schilde führen, sehe ich keinen Grund, meine Strategie zu ändern.«

»Und das bedeutet?«

»Das heißt, wir werden so tun, als sei nichts geschehen. Solange der russische Bär sein Revier nicht verlässt, werden wir ihn gewähren lassen.«

»Auch dann, wenn wir nicht wissen, was er im Schilde führt?«

»Gerade dann«, stellte der Präsident unmissverständlich klar, bereits wieder auf dem Weg zur Tür, wohin ihm ein sichtlich zufriedener Justizminister vorausgeeilt war. »Gerade dann. So, Gentlemen – und nun bitte ich Sie, mich zu entschuldigen!«

*

»Typisch Kennedy!«, ereiferte sich Dulles, nachdem er das Weiße Haus verlassen und seinen vor dem Nordportal auf ihn wartenden Fahrer nach Hause geschickt hatte, damit er und Calabrese unter sich waren. »Aber das ist man von diesem Zauderer ja nicht anders gewohnt.«

Selten um eine Antwort verlegen, blieb sein Protegé diesmal stumm, zwängte sich hinter das Steuer des schwarz lackierten Lincoln Continental und gab Gas. Erst viel später, als er den Wachposten passiert und auf die Pennsylvania Avenue eingebogen war, lockerte sich sein bis dahin unbeteiligter, ans Apathische grenzender Gesichtsausdruck auf, und die Mundwinkel von Luciano Calabrese begannen sich zu kräuseln. »Welch ein Narr!«, murmelte er gedämpft und machte gar nicht erst den Versuch, mit seiner Geringschätzung hinterm Berg zu halten. »Zu glauben, man könne einem Konflikt mit den Russen aus dem Weg gehen. Einfach lächerlich.«

»Wenn ich dran denke, welchen Schaden das Kennedy-Syndrom noch anrichten wird, wird mir ganz anders«, brach es aus Dulles hervor, den die Abgeklärtheit, mit der Calabrese auf die Abfuhr des Präsidenten reagiert hatte, zusätzlich in Wallung brachte. »Keine Ahnung, was wir noch anstellen sollen, um diesen irischen Appeaser auf Trab zu bringen.«

»Aber ich.«

»Ach, ja?«, mokierte sich Dulles in süffisantem Ton. »Darf man fragen, wie Sie sich das vorstellen, Chief Executive? Angenommen, der russische Bär hält sich an die Spielregeln und begnügt sich damit, innerhalb seines eigenen Reviers auf Beutezug zu gehen. Wie zum Teufel wollen Sie es dann fertigbringen, ihn als beutelüsterne Bestie abzustempeln? Eins dürfte Ihnen während der vergangenen halben Stunde doch wohl klar geworden sein, Luke. Um Kennedy vor unseren Karren zu spannen, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Was wir brauchen, Luke, sind Beweise, Daten, Fakten – und keine wackeligen Hypothesen. So schnell es geht. Sonst wird Chruschtschow den Präsidenten um den Finger wickeln.« Dulles schnappte nach Luft, atmete geräuschvoll aus und stützte den Kopf auf die zusammengepresste Faust. »Haben Sie mitgekriegt, wie fertig dieser irische Schönfärber ist? Bevor der sich zum Losschlagen entschließt, muss schon viel passieren. Keinen Mumm in den Knochen, aber große Töne spucken. So haben wir’s gern. Ein paar Monate, und wir tanzen nach Chruschtschows Pfeife.«

»Es sei denn, der Präsident schwenkt auf unsere Linie ein.«

Dulles brach in höhnisches Gelächter aus. »Fragt sich nur, wie Sie ihn dazu bringen wollen.«

Calabrese drosselte das Tempo, umrundete den Washington Circle und bog in Richtung State Department ab. Danach, als Dulles mit keiner Antwort mehr rechnete, verzog er das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen und sagte: »Das, mein lieber Dulles, überlassen Sie am besten mir. Keine Bange – wir beide werden ihn schon so weit kriegen.«

»Und wie?«

»Indem wir ein bisschen nachhelfen, Sir.«

Dulles runzelte die Stirn und blickte stur geradeaus. »Ich hoffe, Sie wissen, auf was Sie sich da einlassen, Chief Executive. Nämlich auf ein Spiel mit dem Feuer. Angenommen, einer unserer Agenten kriegt tatsächlich heraus, dass hinter Chruschtschows Imponiergehabe nichts steckt. Dass er nur blufft und darauf aus ist, sein eigenes – sprich Ostberliner – Revier zu verteidigen. Wie, Signore, würden Sie darauf reagieren?«

»Auf die Tatsache, dass jemand meine Pläne zu durchkreuzen versucht, meinen Sie? Ganz einfach – ich würde mich nicht davon abbringen lassen.«

»Auch dann, wenn es sich um einen unserer eigenen Agenten handelt?«

Calabrese gluckste amüsiert. »Gerade dann, mein lieber Dulles«, entgegnete er, wobei er Kennedys Stimme gekonnt imitierte, »gerade dann!« Und ergänzte süffisant: »Sollte es so weit kommen, würde der Betreffende den nächsten Tag nicht erleben. Und alle anderen, die so töricht sind, mir in die Quere zu kommen!«