Mit einem schnellen Blick berechnete Carson den Abstand, löste das Tuch, das er um den Hals trug, und knüpfte es an das Seil, das er durch ein zweites Tuch, das er in seiner Tasche hatte, noch weiter verlängerte. Das Seil selbst war aus Schlittentauen und kurzen, zusammengeflochtenen Ledersträngen geknüpft und sowohl leicht wie stark. Carson warf es sehr gewandt und hatte gleich Erfolg, so daß es Kid gelang, es zu ergreifen. Er hatte offenbar die Absicht, mit dem Seil in der Hand aus dem Spalt zu kriechen. Aber Carson, der inzwischen das andere Ende des Seils um seinen Körper gebunden hatte, hinderte ihn daran.
»Binden Sie es sich auch um«, befahl er.
»Wenn ich dann hinunterstürze, ziehe ich Sie mit«, wandte Kid ein.
Der kleine Mann erlaubte keinen Widerspruch.
»Halten Sie den Mund«, kommandierte er. »Der Klang Ihrer Stimme genügt vollkommen, um das Ding da zum Einsturz zu bringen.«
»Wenn ich aber wirklich zu gleiten beginne.«, begann Kid. »Halten Sie jetzt gefälligst die Schnauze. Sie werden überhaupt nicht zu fallen beginnen, verstanden? Nun tun Sie, wie ich gesagt habe. so. so ist’s richtig. unter die Achsel. Binden Sie es gehörig fest. Jetzt. Los! Aber vorsichtig! Ich werde das Seil schon einholen! Kommen Sie jetzt.« Kid war vielleicht zehn Schritt weit gekommen, als die Brücke völlig zusammenzubrechen begann. Lautlos und stoßweise zerbröckelte sie und stellte sich dabei immer schräger.
»Schnell«, rief Carson und holte mit beiden Händen das Seil ein, das sich durch Kids Bewegung gelockert hatte.
Als es dann krachte, krampften sich Kids Finger in die harte Wand, während sein Körper von der zerbröckelnden Brücke nach unten gezogen wurde. Carson saß, die Beine gespreizt und gegen den Boden gestemmt, da und holte das Seil aus allen Kräften ein. Durch diese Bemühungen wurde Kid wohl an die Wand heran, gleichzeitig aber Carson aus der Höhlung, in der er saß, herausgezerrt. Er schnellte wie eine Katze herum, krallte sich mit wilder Energie am Eise fest, glitt aber doch hinab. Unter ihm - mit vierzig Fuß Seil zwischen ihnen -kämpfte Kid ebenso verzweifelt, um sich festzuhalten. Aber ehe das Dröhnen aus der Tiefe ihnen meldete, daß die Brücke den Boden des Abgrunds erreicht hatte, waren beide hängengeblieben. Carson fand zuerst eine Stelle, und das bißchen Gewicht, das er jetzt in seinen Zug am Seil noch legen konnte, genügte, um seinen eigenen Sturz aufzuhalten.
Beide blieben in kleinen Vertiefungen stecken, aber die von Kid war so schmal, daß er ohne Hilfe von oben doch tiefer gestürzt wäre, obgleich er sich aus allen Kräften an die Wand drückte und festkrallte. Er hing über einem Vorsprung an der Felswand und konnte deshalb nicht hinabsehen. Einige Minuten vergingen, während deren beide sich bemühten, sich Klarheit über ihre Lage zu verschaffen. Auch machten sie verblüffende Fortschritte in der Kunst, sich an dem nassen und glitschigen Eise festzukrallen. Der kleine Mann war der erste, der zu sprechen begann.
»Kreuzdonnerwetter«, sagte er. Und fügte dann eine Minute später hinzu: »Wenn Sie sich einen Augenblick festhalten und das Seil ein bißchen lockern, werde ich mich umdrehen können. Versuchen Sie es mal.«
Kid machte einen Versuch, stützte sich aber dann wieder auf das Seil.
»Es geht«, meinte er. »Sagen Sie mir, wann Sie bereit sind. Aber schnell.«
»Ungefähr drei Fuß unter mir ist eine Stelle, wo meine Hacken Halt finden können«, sagte Carson. »Ich brauche nur einen Augenblick dazu. Sind Sie bereit?«
»Nur los.«
Es war eine schwere Arbeit, die paar Meter hinabzukriechen und sich dann umzudrehen und hinzusetzen. Aber es war noch schwerer für Kid, sich eng an die Eiswand zu pressen und in einer Lage zu verharren, die von Minute zu Minute immer höhere Anforderungen an seine Muskeln stellte. Er merkte schon, wie er ganz leise, fast unmerklich, hinabzurutschen begann, als das Seil sich endlich wieder straffte. Da sah er auch schon das Gesicht Carsons über sich. Kid bemerkte, daß die sonnengebräunte Haut Carsons ganz fahl war, weil ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen war, und er dachte, wie er wohl aussehen mochte. Als er dann aber sah, wie Carson mit zitternden Fingern nach seinem Messer tastete, sagte er sich, daß er Schluß machen müßte. Der Mann war offenbar außer sich vor Angst und wollte das Seil durchschneiden.
»Kü. kü. kümmern Sie si. si. sich nur nicht um mi. mi. mich.«, stotterte der kleine Mann. »Mir i. i. ist ga. gar nicht ba. bange. Es sind n. nur meine Ne. nerven. hol. hol sie der T. teufel. In einer Mi. mi. nu. nute geht es wie. wie. wieder.«
Und Kid beobachtete ihn, wie er dalag: ganz zusammengekauert, die Schultern zwischen den Knien, zitternd und linkisch. Mit der einen Hand straffte er das Seil ein bißchen, mit der andern, die das Messer hielt, schlug und hieb er Löcher für seine Absätze in das Eis.
Kid wurde es ganz warm ums Herz. »Hören Sie mal, Carson. Sie können mich nie da hinaufziehen, und es hat keinen Zweck, daß wir beide zum Teufel gehen. Machen Sie Schluß und schneiden Sie das Seil durch.«
»Halten Sie doch die Schnauze«, lautete die empörte Antwort. »Wem gehört der Laden hier?«
Und Kid merkte, daß der Zorn ein gutes Heilmittel für die Nerven des andern war. Für seine eigenen Nerven war es eine schlimme Belastung, eng an das Eis gedrückt dazuliegen, ohne etwas anderes tun zu können, als sich festzukrallen. Ein Stöhnen und ein schneller Ruf: »Halten Sie sich fest!« warnten ihn. Das Gesicht gegen die Eiswand gedrückt, machte er eine äußerste Anspannung, um sich festzuhalten, merkte, daß das Seil sich lockerte, und erkannte, daß Carson im Begriff war, zu ihm herunterzugleiten. Er wagte erst aufzublicken, als er merkte, daß das Seil sich wieder straffte, und wußte, daß der andere einen neuen Halt gefunden hatte.
»Pfui Deibel. Das war aber auf der Kippe«, stotterte Carson. »Ich bin mehr als einen Meter weit gerutscht. Nun müssen Sie ein bißchen warten. Ich muß mir einen neuen Halt hauen. Wenn dies verfluchte Eis nicht so verdammt brüchig wäre, würden wir besser dran sein.«
Und während der kleine Mann mit der einen Hand das Seil so straff hielt, wie es für Kid dringend notwendig war, zerhieb und zerriß er das Eis mit dem Messer, das er in der andern hielt. So vergingen zehn Minuten.