Am selben Abend sagte Snass zu Kid:
»Es wäre klüger, wenn Sie sich eine Frau wählen würden, so daß Sie Ihr eigenes Feuer bekommen könnten. Dann würden Sie es viel bequemer haben als bei den jungen Leuten. Das Feuer der Jungfrauen wird erst angezündet, wenn Hochsommer und Lachs da sind. es ist so eine Art Fest der Jungfrauen, wissen Sie. aber ich kann es früher tun lassen, wenn Sie es wünschen.«
Kid lachte und schüttelte den Kopf.
»Vergessen Sie nicht«, beendete Snass ruhig die Unterredung. »Anton ist der einzige, der jemals von hier entkam. Er hatte Glück - ganz außergewöhnliches Glück.«
Labiskwee erzählte Kid, daß ihr Vater einen eisernen Willen hatte.
»Vierauge pflegte ihn den >gefrorenen Seeräuber< zu nennen - ich weiß nicht, was er damit meinte - oder den >Tyrannen des Eises<, den >Höhlenbären<, den >primitiven Tiermenschen<, den >König der Rentiere<, den >bärtigen Panther< und mit einer Menge ähnlicher Namen zu nennen. Vierauge liebte solche Ausdrücke sehr. Er lehrte mich auch mein erstes Englisch. Er machte immer Späße. Man wußte nie, wo er eigentlich hinwollte. Er nannte mich seinen >Cheetah-Kameraden<, wenn ich zornig gewesen war. Was bedeutet eigentlich >Cheetah<?« Sie plauderte weiter mit einer eifrigen und offenen
Kindlichkeit, die Kid nicht gleich mit der reifen Fraulichkeit ihrer Gestalt und ihres Gesichts in Einklang bringen konnte.
Ja, ihr Vater war eisern und herrisch. Alle fürchteten ihn. Wenn er zornig wurde, war er schreckenerregend. Da war zum Beispiel die Geschichte mit den Leuten aus Porcupine. Durch sie und die Leute von Luskwa verkaufte er seine Felle an die Handelsstationen, und durch sie erhielt er auch seine Vorräte an Munition und Tabak. Er war stets korrekt in seinen Geschäften, aber der Häuptling der Porcupines versuchte ihn zu betrügen. Und nachdem Snass ihn zweimal gewarnt hatte, brannte er sein hölzernes Dorf ab, und mehr als ein Dutzend Porcupines fielen in dem Kampf. Aber mit dem Betrügen war es ein für allemal vorbei! Ein andermal war es - als sie noch ein kleines Kind war - geschehen, daß ein Weißer zu fliehen versuchte. aber Snass fing und tötete ihn, das heißt, er selbst tat es natürlich nicht, sondern er gab den jungen Männern des Stammes Befehl, es zu tun. Keiner der Indianer würde es wagen, ihrem Vater nicht zu gehorchen.
Aber je mehr Kid von ihr erfuhr, um so mehr vertiefte sich das Geheimnis, das die Persönlichkeit Snass’ umgab.
»Und erzählen Sie mir doch, ob es wahr ist«, fragte das junge Mädchen, »ob es wahr ist, daß einst ein Mann und seine Frau gelebt haben, die Paolo und Francesca hießen und einander über alles in der Welt liebten?«
Kid nickte.
»Vierauge erzählte mir von ihnen«, berichtete sie und strahlte dabei vor Glück. »Er hat es also nicht selbst erfunden, wie es scheint. Sie sehen, ich war nicht ganz sicher. ich habe meinen Vater einmal gefragt, aber er wurde nur böse. Die Indianer haben mir verraten, daß er dem armen Vierauge deswegen furchtbare Vorwürfe machte. Dann gab es ja auch zwei, die Tristan und Isolde hießen. zwei Isolden sogar. Es war schrecklich traurig, aber ich möchte so furchtbar gern auf diese Weise lieben! Tun alle jungen Männer und Frauen in der Welt so wie die beiden? Hier tun sie es nicht! Sie heiraten einfach. sie scheinen gar keine Zeit zum Lieben zu haben. Aber ich bin Engländerin und würde nie einen Indianer heiraten - würden Sie? - Deshalb habe ich nie mein Jungfrauenfeuer angezündet. Einige von den jungen Männern quälen meinen Vater immer, daß er mich zwingen soll, es zu tun. Einer von ihnen ist Libash - ein großer Jäger. Und Mahkook kommt immer hierher und singt seine Lieder. Er ist verrückt! Wenn Sie heute abend nach Dunkelwerden in mein Zelt kommen wollen, werden Sie ihn in der Kälte stehen sehen und singen hören. Aber mein Vater sagt immer, ich soll tun, was ich will, und deshalb zünde ich mein Feuer nicht an. Sehen Sie. wenn ein Mädchen sich entschlossen hat zu heiraten, zündet sie ein Feuer an, um es den jungen Männern auf diese Weise bekanntzugeben. Vierauge sagte immer, daß es eine schöne Sitte sei. Aber er selbst nahm sich keine Frau. Vielleicht nur, weil er zu alt war. Er hatte fast keine Haare mehr, aber ich finde doch nicht, daß er so furchtbar alt war. Und wie können Sie es denn wissen, wenn Sie von der richtigen Liebe erfaßt werden - so wie Paolo und Francesca, meine ich?«
Der klare Blick ihrer blauen Augen verwirrte Kid.
»Ja, man sagt.«, stotterte er, ». sie sagen. also diejenigen, die selbst lieben. die sagen, daß Liebe mehr wert sei als das Leben. Wenn einer merkt, daß er - oder sie - einen andern lieber hat als sonst jemand in der ganzen Welt. ja, dann weiß er, daß er liebt. So geht es. aber es ist unendlich schwer zu erklären. Man weiß es einfach. das ist alles!«
Sie starrte durch den beißenden Rauch des Lagerfeuers in den blauen Abend hinaus. Dann seufzte sie tief und wandte sich wieder dem Handschuh zu, an dem sie gerade nähte.
»Nun ja«, sagte sie in einem Ton, als ob sie einen endgültigen Entschluß faßte, »ich werde jedenfalls nie heiraten. nie.«
»Wenn es uns je gelingt, aus dem Lager zu entkommen, werden wir die Beine ordentlich gebrauchen müssen«, sagte Kurz mißmutig.
»Ja. die Gegend hier ist eine einzige Riesenfalle«, stimmte Kid ihm bei.
Von der Kuppe eines nackten Felsens blickten sie über das schneebedeckte Reich Snass’ hinaus. Im Osten, Westen und Süden war es von hohen Zinnen und zackigen Ketten eingeschlossen. Gegen Norden schien das wellenförmige Gelände schier unendlich. aber es war ihnen bekannt, daß auch in dieser Richtung ein Dutzend querlaufender Gebirgsketten alle Wege verriegelten.
»Zu dieser Jahreszeit könnte ich Ihnen drei Tage Vorsprung geben«, sagte Snass am selben Abend zu Kid. »Sie können Ihre Fährte gar nicht verstecken, wissen Sie? Anton flüchtete, als der Schnee geschmolzen war. Meine jungen Leute laufen ebenso schnell wie der schnellste Weiße. außerdem würden Sie ja den Weg für sie festtreten. Und wenn der Schnee geschmolzen ist, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie nicht die Chancen bekommen, die Anton seinerzeit hatte. Das Leben hier ist schön! Und die Erinnerung an die Welt schwindet sehr schnell. Ich habe mich nie von meinem Staunen erholt, daß es so leicht war, ohne diese Welt zu leben, die ihr die eure nennt.« -
»Was mir besondere Sorge macht, ist, daß wir Danny McCan mitnehmen müssen«, vertraute Kurz Kid an. »Er taugt nicht für große Fahrten. Aber er schwört alle möglichen heiligen Eide, daß er den Weg nach dem Westen kennt, und deshalb müssen wir ja einen Versuch mit ihm machen, Kid sonst wird dein Schicksal bald entschieden sein.«
»Soo?.« sagte Kid. »Wir sitzen doch wohl im selben Boot.« »O nein, durchaus nicht, mein Freund. für dich birgt das Schicksal etwas ganz anderes im Busen.«
»Wieso?«
»Hast du die letzte Neuigkeit noch nicht gehört?«
Kid schüttelte den Kopf.
»Die Junggesellen haben es mir erzählt. Sie hatten es gerade erfahren. Heute abend geht’s los. obgleich es für die Geschichte eigentlich mehrere Monate zu früh ist.«
Kid zuckte die Achseln.
»Interessiert es dich nicht, das Nähere zu hören?«
»Ich warte ja darauf.«
»Gut. Dannys Frau hat es den Junggesellen erzählt.« Kurz machte eine Pause, um den Eindruck zu erhöhen. »Und die Junggesellen haben es natürlich wieder mir erzählt. nämlich, daß heute abend das Jungfrauenfeuer angezündet werden soll. Das ist alles. Wie gefällt dir die Geschichte?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst, Kurz.«
»Ach nee. wirklich? Mir scheint es wahrhaftig einfach und klar genug! Es ist ein Mädel nach dir aus, und dies Mädel will ein Feuer anstecken, und das Mädel heißt Labiskwee! O ja, ich habe schon bemerkt, wie sie dich anguckt, wenn du es nicht siehst! Sie hat ja auch noch nie ein Feuer anzünden wollen. Sie sagte immer, daß sie keinen Indianer nehmen wollte - . Und wenn sie jetzt ihr Feuer anzündet, so ist es todsicher, daß es meinem armen, unglücklichen Freund Alaska-Kid gilt.«