»Es zeigt aber, wie wütend mein Vater ist«, erklärte sie. »Sie haben offenbar den Befehl, uns zu töten.«
»Wie merkwürdig du sprichst«, sagte Kid. »Deine Stimme klingt wie aus weiter Ferne.«
»Bedecke deinen Mund«, schrie Labiskwee plötzlich. »Und sprich nicht! Ich weiß, was es ist! Deck den Mund mit deinem Ärmel zu!«
McCan war der erste, der hinfiel. Er kämpfte kraftlos, um wieder auf die Beine zu kommen. Und dann fielen sie alle ein über das andere Mal, ehe sie den Gipfel erreichten. Ihr Wille war stärker als ihre Muskeln. sie wußten selbst nicht, was eigentlich geschah, sie fühlten nur, daß ihre Körper unter einer merkwürdigen Empfindungslosigkeit und einer Schwere litten, die ihnen jede Bewegung zur Qual machte. Als sie vom Gipfel den Abhang hinabblickten, den sie soeben hinaufgeklettert waren, sahen sie, daß auch die jungen Männer immer wieder stürzten und stolperten.
»Sie werden nie heraufgelangen«, sagte Labiskwee. »Es ist der weiße Tod. Ich kenne ihn, wenn ich ihn auch nie gesehen habe. Aber ich habe oft genug die alten Männer des Stammes davon sprechen hören. Bald wird der Nebel kommen. aber er ist ganz anders als jeder Nebel, Dunst oder Rauch, den du je gesehen hast. Nur sehr wenige haben ihn erlebt. und überlebt.«
McCan ächzte und keuchte.
»Halt den Mund geschlossen«, befahl ihm Kid.
Von allen Seiten flammte jetzt ein durchdringender Lichtschein auf. Kid blickte zu den vielen Sonnen empor und sah sie wie durch einen Schleier schimmern. Die Luft war von mikroskopischem Feuerstaub erfüllt. Die nahen Gipfel waren von dem zauberhaften Nebel schon wie ausgewischt. Und die jungen Männer, die tapfer und hartnäckig vorzudringen versuchten, wurden langsam von ihm verschlungen. McCan war zusammengesunken. Halb lag er, halb hockte er auf seinen Schneeschuhen, während er Mund und Augen mit den Armen bedeckte.
»Komm jetzt, wir müssen weiter«, befahl Kid.
»Ich kann mich nicht rühren«, ächzte McCan.
Sein gekrümmter Körper begann hin und her zu schwanken. Langsam ging Kid zu ihm, kaum imstande, den Willen zur Bewegung gegen die Lethargie, die seinen Körper zentnerschwer machte, durchzusetzen. Er stellte fest, daß sein Gehirn vollkommen klar war. Nur der Körper schien angegriffen zu sein.
»Laß ihn doch hier«, murmelte Labiskwee.
Aber Kid hielt an seinem Entschluß fest, zog den Iren wieder auf die Beine und stellte ihn mit dem Gesicht in der Richtung des Hanges, den sie hinab sollten. Dann setzte er ihn durch einen kräftigen Stoß in Bewegung. Mit dem Stock bremsend und steuernd, schoß McCan in eine Wolke von diamantenem Staub hinein und verschwand.
Kid sah Labiskwee an, und sie lächelte, obgleich es ihr nur mit großer Mühe gelang, sich aufrecht zu halten. Er nickte ihr zu, daß sie aufbrechen sollte, aber sie kam zu ihm hin, stellte sich neben ihn, und Seite an Seite, nur wenige Fuß voneinander entfernt, sausten sie durch die schwere, brennende Luft, die wie eisiges Feuer war.
So stark Kid auch bremste, riß sein größeres Körpergewicht ihn doch an ihr vorbei, und er sauste mit furchtbarer Schnelligkeit ein großes Stück weiter. Es ging erst langsamer, als er ebenes, mit einer Eiskruste bedecktes Gelände erreichte. Hier wartete er, bis Labiskwee ihn einholte, und dann liefen sie wieder Seite an Seite weiter, während ihre Schnelligkeit allmählich nachließ, bis sie schließlich ganz still standen. Ihre Benommenheit war indessen noch stärker geworden. Selbst mit der größten Anspannung aller Energie konnten sie sich doch nur so langsam wie eine Schnecke vorwärts bewegen. Sie kamen an McCan vorbei, der wieder über seinen Schneeschuhen kauerte, und Kid gab ihm mit seinem Stock einen Hieb, daß er sich wieder aufraffte.
»Jetzt müssen wir haltmachen«, flüsterte Labiskwee mit schmerzlicher Mühe. »Sonst sterben wir. Jetzt müssen wir uns ganz zudecken. so haben mir die Alten gesagt.«
Sie ließ sich nicht einmal Zeit, die Knoten zu lösen, sondern zerschnitt ihre Gepäckriemen mit dem Messer. Kid machte es ebenso, und nachdem sie einen letzten Blick auf die feurigen Todesnebel und die täuschenden Sonnen geworfen hatten, deckten sie sich mit den Schlafsäcken zu und krochen eng aneinander. Sie fühlten, daß ein Körper über sie stolperte und fiel. Dann hörten sie ein leises Wimmern und Fluchen, das durch einen Hustenanfall erstickt wurde, und wußten, daß es McCan war, der zu ihnen kroch und sich in seinen Schlafsack hüllte. Dann hatten sie selbst Erstickungsanfälle und wurden durch einen trockenen Husten, den sie nicht zu unterdrücken vermochten, wie in Krämpfen geschüttelt und gequält. Kid merkte, daß seine Temperatur stieg und zum Fieber wurde, und Labiskwee erlitt dieselben Qualen. Stunde auf Stunde nahmen die Hustenanfälle an Häufigkeit und Stärke zu, und erst am Nachmittag hatten sie den Höhepunkt erreicht. Dann trat eine langsame Besserung ein, und zwischen den Anfällen schlummerten sie jetzt erschöpft.
McCans Husten wurde dagegen immer schlimmer, und aus seinem Stöhnen und Jammern erkannten sie, daß er im Fieberdelirium lag. Einmal wollte Kid schon den Schlafsack beiseite schleudern, aber Labiskwee hielt ihn fest.
»Nein, tue es nicht«, bat sie. »Es ist der Tod, wenn du dich jetzt entblößt. Verbirg dein Gesicht hier in meiner Parka, atme ganz ruhig und still und sprich nicht.«
So lagen sie im Halbschlaf in der Dunkelheit, obgleich der immer schwächer werdende Husten des einen die andern immer weckte. Es schien Kid, als ob McCan nach Mitternacht zum letztenmal hustete.
Kid erwachte, als Lippen sich gegen die seinen preßten. Er lag in Labiskwees Armen, sein Kopf ruhte an ihrer Brust. Ihre Stimme war heiter wie sonst. Der verschleierte Klang war ganz verschwunden.
»Es ist schon Tag«, sagte sie und lüftete vorsichtig einen Zipfel des Schlafsacks. »Sieh, Geliebter, es ist Tag! Wir haben den weißen Tod überlebt, und wir husten nicht mehr! Laß uns die Welt anschauen, obgleich ich gern für immer hierbliebe.
Die letzte Stunde war voll wunderbarer Süße. Ich war die ganze Zeit wach, und ich lag hier und hatte dich so lieb.«
»Ich höre McCan nicht mehr«, sagte Kid. »Und was ist aus den jungen Männern geworden, da sie uns nicht gefangen haben?«
Er schlug die Schlafsäcke zurück und sah eine normale und vernünftige Sonne allein am Himmel stehen. Ein leiser Wind wehte knisternd vor Frost und doch voll von Verheißungen warmer Tage, die bald kommen sollten. Die ganze Welt war wieder wie sonst. McCan lag auf dem Rücken, sein ungewaschenes, vom Rauch der Lagerfeuer geschwärztes Gesicht war hartgefroren, so daß es wie in Marmor gehauen zu sein schien. Der Anblick machte keinen Eindruck auf Labiskwee.
»Sieh«, rief sie. »Ein Schneehuhn! Das ist ein gutes Zeichen!«
Von den jungen Männern war keine Spur zu sehen. Sie hatten so wenig Proviant, daß sie es nicht wagten, auch nur ein Zehntel von dem, was sie nötig hatten, oder ein Hundertstel von dem, worauf sie Appetit hatten, zu essen. Und in den folgenden Tagen, an denen sie durch das einsame und öde Gebirge wanderten, wurde der scharfe Stachel ihrer Lebenskraft abgestumpft, und sie gingen weiter wie in einem Dämmerzustand. Hin und wieder kehrte bei Kid das Bewußtsein zurück, und er fand sich, wie er dastand und nach den fernen Schneekuppen starrte, die nie ein Ende nehmen wollten und die er längst hassen gelernt hatte, während sein eigenes sinnloses Plappern ihm noch in den Ohren hallte. Auch Labiskwee war meistens verstört. Überhaupt mühten sie sich rein automatisch ab, ohne darüber nachzudenken. Und immer wieder wurden sie durch schneebedeckte Gipfel enttäuscht und nach Norden oder Süden abgelenkt.
»Es gibt keinen Weg nach dem Süden«, sagte Labiskwee. »Die alten Männer wußten es. Westwärts, nur westwärts geht unser Weg.« Dann kam ein Tag, an dem es wieder kalt wurde und ein dichtes Schneegestöber sie überfiel, das nicht aus richtigen Schneeflocken, sondern aus Eiskristallen von der Größe von Sandkörnern bestand. Drei Tage lang fiel dieser Schnee, Tag und Nacht ununterbrochen. Es war unmöglich, weiterzuwandern, ehe sich unter dem Einfluß der Frühlingssonne eine Kruste gebildet hatte. Sie legten sich deshalb in ihren Schlafsäcken zur Ruhe, und da sie ruhten, brauchten sie nicht so viel zu essen. So klein waren die Rationen bereits geworden, daß sie den stechenden Hunger, der erst aus dem Magen, aber doch noch mehr aus dem Gehirn kam, nicht zu besänftigen vermochten. Und Labiskwee, die im Fiebertraum lag, wurde halb verrückt, wenn sie ihre kleine Ration kostete; sie schluchzte und murmelte und stieß kleine Schreie tierischer Freude aus. Dann stürzte sie sich über die Ration für den nächsten Tag und steckte sie in den Mund.