Obgleich die beiden Patienten keinen Kartoffelsaft mehr bekamen, hielt die Besserung noch am dritten Tage an. Die Fälle aber, die nicht behandelt worden waren, wurden unterdessen immer schlimmer. Am vierten Morgen wurden vier gräßlich aussehende Leichen begraben. Kurz machte alles geduldig mit, aber dann wandte er sich zu Kid und sagte:
»Du hast jetzt deine Methode versucht. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Er ging direkt in die Hütte Wentworth’. Er hat aber später nie
- nicht einmal Kid - berichtet, was dort vor sich ging. Er kam jedoch mit zerschlagenen, wunden Knöcheln wieder zum Vorschein, und das Gesicht Wentworth’ wies nicht nur alle Anzeichen einer ziemlich unfreundlichen Behandlung auf, er trug auch längere Zeit den Kopf schief und hatte einen steifen Hals. Diese eigentümliche Haltung war zum Teil verständlich, wenn man die vier blauen und schwarzen Flecke auf der einen und einen blau-schwarzen Fleck auf der anderen Seite seiner Kehle bemerkte. Es waren ganz deutliche Spuren von Fingern.
Hierauf begaben Kid und Kurz sich nach der Hütte Wentworth’. Ihn selbst warfen sie in den Schnee hinaus, während sie alles in seiner Hütte auf den Kopf stellten. Laura Sibley half ihnen mit dem Eifer einer Verrückten beim Suchen.
»Du kriegst nicht soviel, wie auf meiner Hand liegen kann, altes Mädchen, und wenn wir eine ganze Tonne finden«, versicherte Kurz ihr.
Aber sie sollte ebenso enttäuscht werden wie Kid und Kurz. Sie fanden nicht das geringste, obgleich sie sogar den Boden aufbrachen.
»Ich bin dafür, ihn über einem langsamen Feuer zu rösten, bis er nachgibt«, schlug Kurz vor.
Kid schüttelte abweisend den Kopf.
»Er ist doch ein Mörder«, erklärte Kurz. »Er tötet ja all die armen Trottel ebenso, wie wenn er ihnen mit einer Keule den Kopf zerschlüge.«
Und wieder verging ein Tag, an dem sie alle Bewegungen Wentworth’ überwachten. Mehrmals näherten sie sich wie zufällig seiner Hütte, wenn er mit seinem Eimer ausging, um Wasser aus dem Bach zu holen, und jedesmal eilte er zurück, ehe er Wasser geschöpft hatte.
»Die Kartoffeln sind offenbar in seiner Hütte versteckt«, sagte Kurz. »So sicher, wie Gott das Mistzeugs geschaffen hat. Aber wo, zum Teufel, hat er sie denn? Wir haben doch wirklich alles auf den Kopf gestellt.« Er stand auf und zog sich die Fäustlinge an. »Ich werde sie finden, und wenn ich die Hütte abreißen sollte.«
Er sah Kid an, der mit einem abwesenden, nach innen gewandten Ausdruck dasaß und gar nicht zugehört hatte.
»Was ist denn mit dir los?« fragte Kurz empört. »Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du Skorbut gekriegt hast?«
»Ich versuche mich an etwas zu erinnern.«
»An was denn?«
»Das weiß ich eben nicht. Das ist ja das Verfluchte. Es war etwas sehr Gutes, wenn ich mich nur entsinnen könnte.«
»Nun hör aber mal, Kid! Du vertrottelst doch wohl hier nicht allmählich?« sagte Kurz eindringlich. »Denk auch ein bißchen an mich! Laß deinen Gehirnapparat etwas schneller arbeiten. Komm und hilf mir die Hütte abreißen. Ich würde sie anzünden, wenn wir nicht riskierten, die Kartoffeln dabei mitzubraten.«
»Ich hab’s«, rief Kid und sprang auf. »Das war es eben, an das ich mich zu erinnern suchte. Wo steht die Petroleumkanne? Ich bin dabei, Kurz. Die Kartoffeln kriegen wir schon.«
»Was ist es denn?«
»Warte nur ab, mein Junge, dann wirst du schon sehen«, neckte ihn Kid.
Kurz darauf schlichen die beiden Männer - im blaßgrünen Schein des Nordlichts - nach der Hütte von Arnos Wentworth. Lautlos und vorsichtig gossen sie Petroleum über die Balken und besonders sorgfältig über Tür und Fensterrahmen. Dann strichen sie ein Zündholz an, blieben stehen und sahen zu, wie das brennende Öl sich ausbreitete.
Sie sahen, wie Wentworth aus der Hütte stürzte, mit wildem Schrecken die Feuersbrunst anstarrte und dann wieder hineinstürmte. Kaum eine Minute war vergangen, als er wiederkam. diesmal aber ganz langsam und tief gebückt unter der Last, die er auf seinem Rücken trug. Es war ganz unverkennbar ein schwerer Sack. Kid und Kurz sprangen wie ein paar hungrige Wölfe auf ihn los. Sie trafen ihn gleichzeitig von links und rechts. Er brach zusammen unter dem Gewicht des Sacks, den Kid kräftig drückte, um den Inhalt mit Sicherheit festzustellen. Da merkte Kid, wie Wentworth’ Arme seine Knie umfaßten, während der Mann ihm ein leichenfahles Gesicht zuwandte.
»Geben Sie mir ein Dutzend, nur ein Dutzend. ein halbes Dutzend nur, dann überlasse ich Ihnen den Rest«, heulte er. Er bleckte die Zähne und wollte, halb verrückt vor Wut, Kid in die Beine beißen. Aber dann änderte er seinen Entschluß und begann zu betteln: »Nur ein halbes Dutzend«, wimmerte er. »Ich wollte sie Ihnen ja sowieso morgen geben. Ja, ja, morgen früh. sie sind das Leben. sie sind das Leben! Nur ein halbes Dutzend!«
»Wo ist der andere Sack?« bluffte ihn Kid.
»Den habe ich aufgegessen«, lautete die zweifellos aufrichtige Antwort. »Nur dieser Sack ist übriggeblieben. Geben Sie mir doch ein paar. Sie können den ganzen Rest behalten.«
»Du hast sie aufgegessen?« brüllte Kurz. »Einen ganzen Sack voll! Und die armen Schlucker da drüben sterben, weil sie keine haben! Da hast du. und hier. und hier. und da. Du verfluchtes Dreckschwein. du Lausebengel!«
Der erste Hieb riß Wentworth von Kids Beinen fort, die er noch immer umklammert hielt. Der nächste schlug ihn in den Schnee. Aber Kurz hieb immer wieder auf ihn los.
»Nimm deine Zehen in acht«, war das einzige, was Kid sagte.
»Ich brauche ja auch nur die Absätze«, antwortete Kurz. »Hol’ mich der Teufel. Ich schlage ihm den Kopf in den Bauch hinein, daß er zwischen den eigenen Rippen herausguckt und glaubt, er sitze hinter schwedischen Gardinen. Ich schlage ihn zu Spinat. Da. und da. Nur schade, daß ich Mokassins und keine Stiefel anhabe. Du stinkiges Mistschwein!«
Diese Nacht wurde im Lager wenig geschlafen. Stunde um Stunde machten Kid und Kurz die Runde und gossen den lebenserneuernden Kartoffelsaft in die kranken Schlünde der Bevölkerung. Jedesmal wurde nur ein viertel Löffel voll gegeben. Und den ganzen folgenden Tag setzten sie diese Arbeit fort, doch wechselten sie jetzt miteinander ab, um auch selbst etwas Schlaf zu bekommen.
Todesfälle gab es nicht mehr. Selbst die am schwersten Angegriffenen begannen, sich zu erholen, und zwar kam die Besserung so plötzlich, daß man staunen mußte. Am dritten Tage waren Männer, die viele Wochen lang nicht das Bett verlassen hatten, imstande, aufzustehen und herumzugehen, wenn auch nur auf Krücken. Und an diesem Tag war die Sonne, die schon seit zwei Monaten auf dem Anmarsch war, so liebenswürdige zum ersten Male einen freundlichen Blick über den Rand der Schlucht zu werfen.
»Nicht so viel Kartoffeln wie auf meiner bloßen Hand«, sagte Kurz zu dem wimmernden und flehenden Wentworth. »Sie haben ja gar keinen Skorbut. Sie haben einen ganzen Sack voll aufgefressen und sind also gegen Skorbut für die ersten zwanzig Jahre gefeit. Jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe, verstehe ich erst den lieben Gott. Ich konnte nie begreifen, warum er den Teufel am Leben ließ. Jetzt weiß ich aber, warum. Er ließ ihn am Leben, genau wie ich Sie am Leben lasse. Aber es ist eigentlich ein Mordsskandal.«
»Nur einen freundschaftlichen Rat«, flüsterte Kid Wentworth zu. »Die Leute werden jetzt schnell gesund sein. Und Kurz und ich können nur noch eine Woche hierbleiben - dann gibt es keinen mehr, der Sie beschützen kann, wenn die Leute sich für Sie interessieren sollten. Dort geht der Weg! Nach Dawson sind es nur achtzehn Tage.«
»Ja, machen Sie sich lieber dünne«, stimmte Kurz ihm bei, »sonst befürchte ich, daß das, was ich Ihnen so freundlich gegeben habe, nur ein bescheidener Vorgeschmack von dem sein wird, was Ihnen die andern Herren hier zuteilen werden.«
»Meine Herren, ich bitte Sie, schenken Sie mir doch Gehör«, heulte Wentworth. »Ich bin ja ganz fremd in diesem schrecklichen Land. Ich weiß nicht einmal den Weg! Ich kenne die Sitten hier nicht! Lassen Sie mich mit Ihnen gehen! Ich gebe Ihnen tausend Dollar, wenn Sie mich mit Ihnen reisen lassen.«