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»Vater?« Nadja stand auf, ging zu ihrem Vater und nahm seine Hand. »Hast du denn gar keine Lust, mit mir zusammen zu sein?«

Jetzt war sie zu nah, selbst ohne Brille. Er konnte ihr Haar sehen, ihr Gesicht. Er wischte sich über die Augenbrauen und setzte seine Brille wieder auf.

»Nadja, du hast doch eine kleine Schwester. Warum spielst du denn nicht mit der? Als ich so alt war wie du, war ich immer mit meinem Bruder zusammen.«

»Du hast einen Bruder?«

»Ja.«

»Wo ist er?«

Andrej zeigte auf die Wand, wo die Fotos mit dem russischen Soldaten hingen.

»Wie heißt er?«

»Pavel.«

»Und warum kommt er uns nicht besuchen?«

»Das wird er schon noch.«

Rostower Oblast

8 Kilometer nördlich von Rostow am Don

16. Juli

Sie bestiegen eine Elektritschka, die die Außenbezirke der Stadt abklapperte und Leo und Raisa langsam ihrem Ziel näherbrachte, dem Zentrum von Rostow am Don. Der Lastwagenfahrer hatte sie nicht verraten. Er hatte sie durch mehrere Straßensperren gebracht und sie in Schachty abgesetzt, wo sie die Nacht bei seiner Schwiegermutter und deren Familie verbracht hatten, einer Frau namens Sara Karlowna. Sara war Ende fünfzig und lebte mit einigen ihrer Kinder zusammen, darunter einer verheirateten Tochter, die selbst schon wieder drei Kinder hatte. Auch Saras Eltern lebten in der Wohnung, somit also insgesamt elf Personen in drei Schlafzimmern, pro Zimmer eine Generation. Leo hatte jetzt bereits zum dritten Mal die Geschichte über seine Ermittlungen erzählt, aber anders als in den Städten im Norden hatte man hier bereits von den Kindermorden gehört. Sara wusste zu berichten, dass es nur wenige Leute in der Oblast gab, die die Gerüchte noch nicht mitbekommen hatten. Aber etwas Genaueres wusste hier auch keiner. Als sie die geschätzte Zahl der Opfer hörten, wurde es still.

Die Frage, ob sie helfen würden, hatte nie zur Debatte gestanden. Stattdessen hatte die Großfamilie sofort Pläne geschmiedet. Leo und Raisa wollten bis zur Dämmerung warten, bevor sie ins Stadtzentrum fuhren, weil in der Fabrik abends weniger Leute sein würden. Außerdem bestand so eine größere Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder zu Hause war. Überdies hatte man beschlossen, dass sie sich nicht allein auf den Weg machen sollten. Deshalb befanden sie sich jetzt in Begleitung von drei kleinen Kindern und zwei agilen Großeltern. Leo und Raisa gaben Mutter und Vater ab, die echte Mutter war dafür in Schachty geblieben. Dass sie sich als Familie ausgaben, war eine Vorsichtsmaßnahme. Falls die Jagd nach ihnen schon Rostow erreicht hatte, falls der Staat darauf gekommen war, dass sie nicht vorhatten, das Land zu verlassen, dann würden die Häscher nach einem Mann und einer Frau suchen, die zusammen unterwegs waren. Ihr äußeres Erscheinungsbild gravierend zu verändern, war ihnen nicht möglich gewesen. Sie hatten sich beide die Haare kurz geschnitten, und man hatte ihnen neue Kleider gegeben. Trotzdem wären sie ohne die Familie in ihrer Begleitung leicht zu identifizieren gewesen. Raisa hatte Bedenken geäußert, die Kinder mitzunehmen, weil sie Sorge hatte, sie in Gefahr zu bringen. Daraufhin hatte man beschlossen, dass, falls etwas schiefging und sie geschnappt wurden, die Großeltern behaupten sollten, Leo habe sie bedroht und sie hätten um ihr Leben gefürchtet, wenn sie ihm nicht halfen.

Der Zug hielt an. Leo schaute aus dem Fenster. Im Bahnhof herrschte reger Betrieb. Er sah mehrere uniformierte Polizisten auf dem Bahnhof patrouillieren. Zu siebent stiegen sie aus. Raisa trug das jüngste Kind, einen kleinen Jungen. Allen drei Kindern hatte man eingeschärft, sich möglichst ausgelassen zu benehmen. Die älteren beiden Jungen verstanden, worum es bei dem Schwindel ging, und machten ihre Sache gut, aber der Jüngste war verwirrt und glotzte Raisa nur mit herabhängenden Mundwinkeln an. Er spürte die Gefahr und wünschte sich bestimmt, er wäre zu Hause. Aber nur jemand, der ganz genau hinschaute, hätte Verdacht schöpfen können, dass dies gar keine richtige Familie war. Überall auf dem Bahnsteig und dem Querbahnsteig standen Wachen verstreut. Sie suchten jemanden. Leo hatte sich zwar mit dem Gedanken zu beruhigen versucht, dass jede Menge Menschen gesucht und verhaftet wurden, aber sein Bauch sagte ihm, dass sie nach ihnen Ausschau hielten. Der Ausgang war noch 50 Schritt entfernt. Darauf mussten sie sich konzentrieren. Sie waren fast da.

Zwei bewaffnete Beamte traten ihnen in den Weg. »Wo kommen Sie her und wo wollen Sie hin?«

Im ersten Moment blieb Raisa stumm, sie brachte einfach keinen Ton heraus. Um die Erstarrung zu überspielen, nahm sie den Jungen von einem Arm auf den anderen und lachte. »Irgendwann werden sie einem einfach zu schwer.«

Leo sprang ein. »Wir haben gerade unsere Schwester besucht. Sie wohnt in Schachty. Sie heiratet.«

Die Großmutter fügte hinzu: »Und zwar einen Trunkenbold. Ich habe ihr gesagt, sie soll die Finger von ihm lassen.«

Leo wandte sich lächelnd an die Großmutter: »Willst du vielleicht, dass sie einen heiratet, der nur Wasser trinkt?«

»Das wäre besser.«

Der Großvater nickte, dann setzte er hinzu: »Er kann ja trinken, aber warum muss er so hässlich sein?«

Die Großeltern lachten. Die Beamten nicht. Einer von ihnen wandte sich dem Kleinsten zu. »Wie heißt er?«

Die Frage war an Raisa gerichtet. Wieder hatte sie einen Aussetzer. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, es fiel ihr einfach nicht ein. Aus ihrem Gedächtnis kramte sie irgendeinen Namen hervor. »Alexander.«

De Junge schüttelte den Kopf. »Ich heiße Iwan.«

Raisa lachte. »Ich ziehe ihn gern damit auf. Ich nenne immer den einen beim Namen des anderen, das bringt sie fürchterlich auf die Palme. Der junge Mann auf meinem Arm ist Iwan. Und das ist Michail.«

Das war der Name des mittleren Jungen. Jetzt fiel Raisa auch wieder ein, dass der Älteste Alexej hieß. Aber damit ihre Lüge funktionierte, musste sie jetzt so tun, als sei sein Name Alexander.

»Und mein ältester Sohn heißt Alexander.«

Der Junge wollte schon den Mund aufmachen und protestieren, aber sein Großvater sprang ihr bei und streichelte dem Jungen liebevoll den Kopf, der ärgerlich die Hand abschüttelte.

»Lass das, ich bin kein Kleinkind mehr.«

Raisa musste sich Mühe geben, dass man ihr die Erleichterung nicht anmerkte. Die Beamten ließen sie durch, und sie führte ihre falsche Familie aus dem Bahnhof.

Als das Bahnhofsgebäude außer Sichtweite war, verabschiedeten sie sich von ihren Helfern und trennten sich. Leo und Raisa nahmen ein Taxi. Sie hatten Saras Familie bereits bis in alle Einzelheiten in ihre Nachforschungen eingeweiht. Wenn Leo und Raisa es aus irgendeinem Grund nicht schafften und die Morde weitergingen, dann würde die Familie die Sache übernehmen. Sie würden andere in die Suche nach diesem Mann einbeziehen. Wenn eine Gruppe aufflog, würde eine andere an ihre Stelle treten. Man durfte den Kerl einfach nicht am Leben lassen. Leo war durchaus klar, dass es sich um Lynchjustiz handelte. Kein Gericht, keine Beweise, kein Verfahren. Die Hinrichtung würde nur auf Indizien beruhen. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, mussten sie genauso handeln wie das System, gegen das sie ankämpften.

Leo und Raisa saßen im Fond des Taxis und schwiegen. Es gab nichts mehr zu bereden, der Plan war fertig. Leo würde sich Zugang zur Rostelmasch-Fabrik verschaffen und ins Personalbüro eindringen. Wie genau, wusste er noch nicht, er würde improvisieren müssen. Raisa würde derweil im Taxi sitzen bleiben und den Fahrer beschwichtigen, falls der misstrauisch wurde. Sie hatten ihn schon im Voraus sehr großzügig entlohnt, damit er friedlich blieb und machte, was sie wollten. Denn sobald Leo den Namen und die Adresse des Mörders erfahren hatte, würde er sie noch zu dessen Haus fahren müssen. Wenn der Mörder nicht zu Hause war, weil er sich auf Reisen befand, würden sie versuchen herauszufinden, wann er zurückkehrte. Dann würden sie nach Schachty zurückfahren und bei Saras Familie auf ihn warten.