Das Taxi hielt an. Raisa drückte Leos Hand. Er war nervös. Kaum hörbar flüsterte er: »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin ...«
»Ich weiß.«
Leo stieg aus und schlug die Tür zu. Vor dem Haupttor standen Wachen, einen besonders aufmerksamen Eindruck machten sie allerdings nicht. Nach den Sicherheitsvorkehrungen zu urteilen, war Leo einigermaßen zuversichtlich, dass niemand im MGB bei der Suche nach ihm diese Traktorenfabrik auf der Rechnung hatte. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass man die Wachen reduziert hatte, um ihn hineinzulocken, aber das bezweifelte er. Vielleicht waren sie daraufgekommen, dass er nach Rostow wollte, aber wohin genau, hatten sie bestimmt nicht herausgefunden. Leo ging zur Rückseite und fand eine Stelle, an der die Sicht auf den Maschendrahtzaun durch ein querstehendes Ziegelgebäude verdeckt wurde. Er kletterte hinauf, drückte die Krone aus Stacheldraht hoch und ließ sich auf der anderen Seite ab. Er war drin.
An den Fließbändern der Fabrik wurde rund um die Uhr gearbeitet. Es gab die Schichtarbeiter, aber sonst sah man nur wenige Leute. Das Gelände war riesig. Mehrere 1ooo Menschen mussten hier beschäftigt sein. Leo schätzte die Belegschaft auf bis zu 1o ooo, die in der Buchhaltung, der Hausmeisterei, dem Versand und natürlich in der Produktion arbeiteten. Außerdem gab es ja noch eine Tages- und eine Nachtschicht, deshalb bezweifelte Leo, dass jemand in ihm einen Fremden erkennen würde. Ruhig und zielstrebig, so als gehöre er hierhin, näherte er sich dem größten Gebäude. Zwei Männer kamen heraus und strebten rauchend dem Haupttor zu. Vielleicht war ihre Schicht zu Ende. Sie sahen ihn und blieben stehen. Leo konnte sie nicht ignorieren, also winkte er und ging auf sie zu.
»Ich bin Tolkatsch und arbeite für die Automobil-Fabrik in Wu-alsk. Eigentlich hätte ich schon viel früher ankommen sollen, aber mein Zug hatte Verspätung. Wo ist das Verwaltungsgebäude?«
»Die Verwaltung hat kein eigenes Gebäude. Die Zentrale ist da drinnen, auf einem der oberen Stockwerke. Ich bringe Sie hin.«
»Ich finde es schon allein.«
»Ich habe keine Eile, nach Hause zu kommen. Ich bringe Sie hin.«
Leo lächelte. Ausschlagen konnte er das nicht. Die zwei Männer verabschiedeten sich voneinander, und Leo folgte seinem ungebetenen Führer in die Hauptmontagehalle.
Als er eintrat, vergaß er für einen Moment, warum er gekommen war. Die schiere Größe, die hohe Decke, der Lärm der Maschinen - all das kam einem wie ein Wunder vor, das man eigentlich in einer religiösen Stätte erwartet hätte. Aber dies war ja auch die neue Kirche, die Kathedrale des Volkes, und die Ehrfurcht, die man in ihr empfand, war fast so wichtig wie die Maschinen, die sie erschuf. Leo und der andere Mann gingen Seite an Seite und plauderten. Mittlerweile war Leo froh über seine Begleitung, denn so erregte er keinen Verdacht. Er fragte sich bloß, wie er den Mann wieder loswerden sollte.
Sie nahmen die Treppe von der Montagehalle hinauf in die Verwaltungsetage. Der Mann sagte:
»Ich weiß nicht, wie viele Leute noch da sind. Da oben haben sie normalerweise keine Nachtschicht.«
Leo wusste immer noch nicht genau, was er als Nächstes machen sollte. Würde er seine Täuschung bis zum Ende aufrechterhalten können? Unwahrscheinlich, wenn man bedachte, was für vertrauliche Informationen er brauchte. Die würden sie ihm nicht einfach so geben, egal, mit was für einer Ausrede er ihnen kam. Wenn er noch seinen Dienstausweis von der Staatssicherheit gehabt hätte, wäre das alles kein Problem gewesen.
Sie bogen um eine Ecke. Ein Korridor führte zu einem Büro, von dem aus man die Montagehalle überblicken konnte. Was auch immer er anstellte, die Arbeiter da unten würden ihn sehen können. Der Mann klopfte an die Tür. Jetzt hing alles davon ab, wie viele Leute sich dort drinnen befanden. Ein älterer Mann öffnete, vielleicht ein Buchhalter. Er trug einen Anzug, war blass und hatte einen verbitterten Gesichtsausdruck. »Was wollen Sie?«
Leo spähte über die Schulter des Buchhalters. Das Büro war leer.
Er wirbelte herum und schlug seinem Begleiter in den Magen, worauf dieser zusammenklappte. Noch bevor der Buchhalter Zeit hatte zu reagieren, umklammerte Leo schon mit einer Hand seinen Hals. »Tun Sie, was ich sage, dann passiert Ihnen nichts. Verstanden?«
Der Mann nickte. Vorsichtig ließ Leo seinen Hals los. »Ziehen Sie alle Vorhänge zu, und nehmen Sie ihren Schlips ab.«
Leo zog den jüngeren Mann, der immer noch röchelte, hinein. Er machte die Tür zu und verschloss sie hinter sich. Der Buchhalter nahm seinen Schlips ab und warf ihn Leo hin, dann zog er die Vorhänge zu, sodass die Montagehalle nicht mehr zu sehen war. Mit dem Schlips band Leo dem jungen Mann die Hände hinter dem Rücken zusammen und behielt dabei den Buchhalter im Auge. Er bezweifelte, dass es hier im Büro eine Waffe oder einen Alarmknopf gab, es war ja nichts da, was sich zu stehlen lohnte. Nachdem er die Gardinen zugezogen hatte, wandte sich der Mann wieder zu Leo um. »Was wollen Sie?«
»Die Personalakten.«
Verblüfft, aber gehorsam schloss der Mann den Aktenschrank auf. Leo trat vor und stellte sich neben ihn. »Bleiben Sie da, rühren Sie sich nicht von der Stelle und behalten Sie die Hände auf dem Schrank!«
Es gab Abertausende von Akten, eine lückenlose Dokumentation nicht nur der gegenwärtigen Belegschaft, sondern auch aller Leute, die nicht mehr hier arbeiteten. Tolkatschi gab es offiziell gar nicht, da ihre bloße Existenz ja schon auf Fehler im Liefer- und Produktionsprozess hingewiesen hätte. Es war unwahrscheinlich, dass man sie unter diesem Begriff führte.
»Wo sind die Akten Ihrer Tolkatschi?«
Der ältere Mann zog einen Karteikasten hervor und holte eine dicke Akte heraus. Auf dem Deckel stand MARKTFORSCHER. Soweit Leo sehen konnte, beschäftigte die Firma gegenwärtig fünf Tolkatschi. Der Erfolg ihrer gesamten Ermittlungen hing jetzt von diesen Akten ab. Nervös überprüfte Leo die Arbeitseinsätze der Männer. Wo hatte man sie hingeschickt, und wann? Wenn diese Daten mit den Morden übereinstimmten, dann hatte er den Mörder gefunden, jedenfalls ging er davon aus. Wenn es genügend Übereinstimmungen gab, würde er den Mann aufsuchen und mit den Taten konfrontieren. Er war sich sicher, wenn man es ihm auf den Kopf zusagte, würde der Mann zusammenbrechen. Leo fuhr mit den Fingern über die Liste und verglich die Daten und Orte mit denen in seinem Gedächtnis. Die erste Liste passte nicht. Er hielt einen Moment inne und fragte sich, ob sein Erinnerungsvermögen überhaupt noch intakt war. Aber die drei Daten, die er niemals vergessen würde, waren die Morde in Wualsk und der in Moskau. Dieser Tolkatsch hier war nie irgendwo entlang der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs gewesen. Leo öffnete die zweite Akte und sah sich die Geschäftsreisen an. Der Mann hatte erst im letzten Monat angefangen. Leo schob die Akte beiseite und öffnete die dritte. Passte nicht. Jetzt waren nur noch zwei übrig. Er blätterte die vierte durch.
Wualsk, Molotow, Wjatka, Gorki - all diese Städte säumten die Eisenbahnlinie nach Westen. Südlich von Moskau fand er Tula und Orel, in der Ukraine Karkow und Gorlowka, Saporoschje und Kramatorsk. In all diesen Städten waren Kinder ermordet worden. Er schloss die Akte. Bevor er sich die persönlichen Daten ansah, warf er noch einen Blick in die fünfte Akte. Er fuhr die Liste entlang und konnte dabei kaum seinen Finger ruhig halten. Es gab ein paar Übereinstimmungen, aber nicht genügend. Leo wandte sich wieder der vierten Akte zu. Er blätterte vor zur ersten Seite und starrte ein Schwarzweißfoto an: Er trug eine Brille. Er hieß Andrej.