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»Unsere Mutter gab sich auf, aber ich habe auf mich aufgepasst. Zum Glück für mich war der Winter schon fast vorbei und das Leben wurde langsam wieder besser. Nur zehn Leute aus unserem Dorf haben überlebt, elf mit dir. In anderen Dörfern gab es überhaupt keine Überlebenden mehr. Als der Frühling kam und der Schnee taute, fing es an zu stinken. Ganze Dörfer verwesten und waren verseucht, man konnte sich ihnen gar nicht nähern. Aber im Winter waren sie noch ganz still und friedlich. Und die ganze Zeit über zog ich durch den Wald und jagte, jeden Abend, ganz allein. Ich verfolgte Spuren und suchte nach dir, rief deinen Namen in die Bäume hinauf. Aber du kamst nie zurück.«

So als ob sein Gehirn die Worte nur ganz langsam verarbeiten könne, eines nach dem anderen, fragte Leo mit zögernder Stimme: »Du hast diese Kinder getötet, weil du dachtest, dass ich dich verlassen habe?«

»Ich habe sie getötet, damit du mich findest. Ich habe sie getötet, damit du wieder nach Hause kommst. Dass ich sie umbrachte, war meine Art, mit dir Kontakt aufzunehmen. Wer sonst hätte denn die Hinweise aus unserer Kindheit verstehen sollen? Ich wusste, du würdest ihnen nachgehen, so wie du den Spuren im Schnee nachgegangen bist. Du bist ein Jäger, Pavel, der beste Jäger der Welt. Ich wusste nicht, ob du bei der Miliz bist oder nicht. Als ich dein Foto sah, habe ich mit den Leuten von der >Prawda< gesprochen und nach deinem Namen gefragt. Ich erklärte ihnen, dass wir getrennt worden waren und ich glaubte, dein Name sei Pavel. Sie fertigten mich damit ab, dein Name sei nicht Pavel und deine Personaldaten seien vertraulich. Ich flehte sie an, mir wenigstens zu sagen, in welcher Division du kämpftest. Noch nicht einmal das wollten sie mir verraten. Ich war auch Soldat. Nicht so einer wie du, kein Held, keine Elite. Aber ich wusste genug, um zu begreifen, dass du in einer Spezialeinheit sein musstest. Nach der Geheimniskrämerei um deinen Namen zu urteilen war es gut möglich, dass du entweder beim Militär, bei der Staatssicherheit oder bei der Regierung warst. Ich wusste, dass du jemand Wichtiges sein musstest, alles andere war undenkbar. Du würdest Zugang zu Informationen über diese Morde haben. Andererseits spielte das gar keine so große Rolle. Wenn ich nur genügend Kinder an genügend verschiedenen Orten umbrachte, dann würdest du irgendwann bestimmt auf meine Taten aufmerksam werden, egal in welchem Beruf. Ich war mir sicher, du würdest merken, dass ich es war.«

Leo lehnte sich vor. Sein Bruder wirkte so sanft, seine Überlegungen so durchdacht. Er fragte ihn: »Was ist dir dann passiert, Bruder?«

»Du meinst, nach dem Dorf? Dasselbe wie allen: Ich wurde in die Armee eingezogen. In einer Schlacht habe ich meine Brille verloren und bin den Deutschen in die Hände gestolpert. Ich wurde gefangen genommen und ergab mich. Als ich wieder nach Russland zurückkam, wurde ich als ehemaliger Kriegsgefangener verhaftet, verhört und geschlagen. Sie drohten damit, mich ins Gefängnis zu stecken. Ich fragte sie, wie ich denn ein Verräter sein könne, wo ich doch kaum etwas sah. Sechs Monate lang hatte ich keine Brille. Jenseits von meiner Nasenspitze war die ganze Welt nur ein einziger Nebel. Und jedes Kind, das ich sah, warst du. Eigentlich sollte ich exekutiert werden, aber die Wachen mussten jedes Mal lachen, wenn ich wieder etwas umstieß. Am laufenden Band fiel ich hin, genau wie als Kind. Ich überlebte. Ich war viel zu dumm und tapsig, um ein Spion für die Deutschen zu sein. Sie beschimpften mich und verprügelten mich, dann ließen sie mich gehen. Aber das machte mir alles nichts aus. Ich hatte ja dich. Und so habe ich mein ganzes Leben dem Ziel gewidmet, dich wieder zu mir zurückzubringen.«

»Und deshalb hast du angefangen zu morden?«

»Zuerst habe ich es nur bei uns in der Gegend gemacht. Aber nach einem halben Jahr musste ich einsehen, dass du ja überall im Land sein konntest. Deshalb habe ich mir Arbeit als Tolkatsch gesucht, damit ich reisen konnte. Ich musste meine Zeichen im ganzen Land verteilen, damit du ihnen folgen konntest.«

»Zeichen? Das waren Kinder!«

»Am Anfang habe ich Tiere getötet. Ich habe sie genauso gefangen wie wir damals die Katze. Aber das funktionierte nicht. Das störte niemanden, fiel überhaupt keinem auf. Eines Tages kam mir zufällig im Wald ein Kind entgegen und fragte, was ich da machte. Ich erklärte ihm, dass ich einen Köder auslegte. Der Junge war ungefähr so alt wie du, als du mich verlassen hast. Und da kam ich auf den Gedanken, dass das Kind doch einen viel besseren Köder abgeben würde. Ein totes Kind würde den Leuten bestimmt auffallen. Und du würdest den Hinweis verstehen. Warum habe ich wohl so viele Kinder im Winter getötet? Damit du den Spuren durch den Schnee würdest folgen können. Bist du denn nicht meinen Fußspuren bis in den Wald hinein gefolgt, genauso wie damals bei der Katze?«

Leo hatte der leisen Stimme seines Bruders zugehört, als spräche der in einer fremden Sprache, die er kaum verstand. Jetzt unterbrach er ihn. »Andrej, du hast doch selbst eine Familie. Da oben habe ich deine Kinder gesehen. Sie sind genauso wie die Kinder, die du umgebracht hast. Du hast zwei schöne kleine Mädchen. Kannst du denn nicht begreifen, dass das, was du gemacht hast, falsch war?«

»Es war notwendig.«

»Nein.«

Wütend schlug Andrej mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Rede nicht in so einem Ton mit mir! Du hast kein Recht, dich aufzuregen. Du hast dir nie die Mühe gemacht, mich zu suchen. Du bist nie zurückgekommen. Ich wusste, dass du lebst und dich keinen Deut um mich scherst. Vergiss doch den dummen, tollpatschigen Andrej. Der bedeutete dir ja nichts. Du hast mich mit einer komplett wahnsinnigen Mutter in einem Dorf voller verwesender Leichen zurückgelassen. Du hast kein Recht, über mich zu urteilen!«

Leo starrte in das wutentstellte Gesicht seines Bruders, das plötzlich wie verwandelt war. War dies das Gesicht, das die Kinder gesehen hatten? Was hatte sein Bruder nur durchgemacht? Welche unvorstellbaren Qualen? Aber die Zeit für Mitleid und Verständnis war schon lange verstrichen. Andrej wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Es war die einzige Möglichkeit, wie ich dich dazu bringen konnte, nach mir zu suchen. Die einzige Möglichkeit, deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Du hättest ja nach mir suchen können. Aber das hast du nicht gemacht. Du hast mich von deinem Leben abgekoppelt, mich aus deiner Erinnerung verbannt. Der glücklichste Moment in meinem Leben war der, als wir damals zusammen die Katze gefangen haben, du und ich. Wenn wir zusammen waren, hatte ich nie das Gefühl, dass die Welt ungerecht ist, auch wenn wir nichts zu beißen hatten und es bitterkalt war. Aber dann bist du weggegangen.«

»Andrej, ich habe dich nicht verlassen. Ich wurde entführt. Ein Mann im Wald hat mir eins übergezogen. Ich wurde in einen Sack gesteckt und verschleppt. Ich hätte dich nie im Stich gelassen.«

Andrej schüttelte den Kopf. »Das hat unsere Mutter auch immer gesagt. Aber das ist gelogen. Du hast mich verraten.«

»Ich wäre fast umgekommen. Der Mann, der mich verschleppt hat, wollte mich töten. Sie wollten mich an ihren Sohn verfüttern. Aber als wir bei ihnen ankamen, war der Junge schon gestorben. Ich hatte eine Gehirnerschütterung, konnte mich nicht mal an meinen eigenen Namen erinnern. Es hat Wochen gedauert, bis ich mich davon erholt hatte. Und da war ich längst in Moskau. Wir waren in die Stadt gegangen, sie mussten ja etwas zu essen finden. Ich habe an dich gedacht, und an unsere Mutter. Ich habe an unser gemeinsames Leben gedacht. Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich hatte gar keine andere Wahl. Ich musste sehen, wie ich klarkam. Es tut mir leid.« Jetzt entschuldigte er sich auch noch.

Andrej nahm die Karten und mischte sie. »Du hättest nach mir suchen können, als du älter warst. Hättest dich ein bisschen bemühen können. Ich habe meinen Namen nicht geändert. Ich wäre leicht zu finden gewesen, vor allem für einen Mann mit deinen Verbindungen.«