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Das stimmte. Leo hätte seinen Bruder ausfindig machen können, er hätte nach ihm forschen können. Aber er hatte versucht, die Vergangenheit zu begraben. Und jetzt hatte sich sein Bruder in sein Leben zurückgemordet.

»Andrej, mein ganzes Leben lang habe ich versucht, was geschehen war, zu vergessen. Ich bin in der Angst aufgewachsen, meine neuen Eltern damit zu konfrontieren. Ich traute mich nicht, sie an früher zu erinnern, weil ich die Zeit nicht wieder heraufbeschwören wollte, als sie mich hatten töten wollen. Jede Nacht bin ich schweißgebadet hochgeschreckt, weil ich befürchtete, sie hätten es sich vielleicht anders überlegt und würden mich nun doch lieber umbringen. Ich habe getan, was ich nur konnte, damit sie mich nur lieb gewannen. Es ging ums nackte Überleben.«

»Du wolltest doch immer schon deiner eigenen Wege gehen, ohne mich, Pavel. Du wolltest mich früher schon immer loswerden.«

»Weißt du denn, warum ich hergekommen bin?«

»Du bist gekommen, um mich zu töten. Warum sollte ein Jäger sonst kommen? Und wenn du mich erst umgebracht hast, wird man dich lieben und mich hassen. So wie immer.«

»Bruder, ich werde als Verräter gesucht, nur weil ich versucht habe, dich aufzuhalten.«

Andrej schien ehrlich überrascht. »Warum das denn?«

»Sie haben deine Morde anderen Leuten in die Schuhe geschoben. Viele Unschuldige sind direkt oder indirekt durch deine Verbrechen umgekommen. Begreifst du das? Wenn du jetzt der Täter bist, bringt das den Staat in eine peinliche Situation.«

In Andrejs Gesicht zeigte sich keine Regung. Schließlich sagte er: »Dann schreibe ich eben ein Geständnis.«

Noch ein Geständnis. Und wie würde es lauten? Ich, Andrej Sidorow, bin ein Mörder. Sein Bruder begriff es nicht. Niemand wollte sein Geständnis. Niemand wollte, dass er schuldig war.

»Andrej, ich bin nicht hier, um dein Geständnis zu bekommen. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass du nicht noch mehr Kinder umbringst.«

»Ich halte dich nicht auf. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen wollte. Ich habe bewiesen, dass ich recht hatte. Und ich habe dafür gesorgt, dass es dir jetzt leid tut, nicht früher nach mir gesucht zu haben. Stell dir mal vor, wie viele Menschenleben du damit hättest retten können.«

»Du bist wahnsinnig.«

»Bevor du mich umbringst, würde ich gern noch ein Spielchen machen. Bitte, Bruder, es ist das Letzte, was du noch für mich tun kannst.«

Andrej gab die Karten. Leo starrte sie an.

»Bitte, Bruder, nur ein Spiel. Wenn du mitspielst, darfst du mich hinterher töten.«

Leo nahm die Karten. Nicht wegen dem, was sein Bruder ihm versprochen hatte, sondern weil er Zeit brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er musste sich Andrej als Fremden vorstellen. Sie fingen an zu spielen. Andrej war ganz bei der Sache und schien vollkommen zufrieden zu sein. Seitlich von ihnen gab es ein Geräusch. Erschrocken fuhr Leo herum. Am Fuß der Treppe stand ein niedliches kleines Mädchen mit zerzausten Haaren. Mit zaghafter Neugier blieb sie auf der untersten Treppenstufe stehen, man sah sie kaum.

Andrej stand auf. »Nadja, das ist mein Bruder Pavel.«

»Der Bruder, von dem du mir erzählt hast? Von dem du gesagt hast, dass er uns besuchen kommt?«

»Ja.«

Nadja drehte sich zu Leo um. »Hast du Hunger? Von wie weit kommst du her?«

Leo wusste nicht, was er sagen sollte. Andrej nahm ihm die Antwort ab. »Du solltest wieder ins Bett gehen.«

»Jetzt bin ich aber wach. Ich kann bestimmt nicht wieder einschlafen. Ich würde nur da oben liegen und euch reden hören. Kann ich mich nicht zu euch setzen? Ich will deinen Bruder doch auch kennenlernen. Ich habe noch nie Verwandte von dir getroffen. Ich möchte so gern. Bitte bitte, Vater.«

»Pavel ist weit gereist, um mich zu finden. Wir haben eine Menge zu besprechen.«

Leo musste das kleine Mädchen loswerden. Sonst lief er Gefahr, dass das hier zu einer Wiedersehensfeier ausartete. Ein paar Gläschen Wodka, ein paar Scheiben kaltes Fleisch, Fragen nach seiner Vergangenheit ... Er war zum Töten gekommen!

»Vielleicht könnten wir etwas Tee haben, wenn es welchen gibt?«

»Ja. Ich weiß, wie man den macht. Soll ich Mutter aufwecken?«

Andrej sagte: »Nein, lass sie schlafen.«

»Dann darf ich ihn alleine machen?«

»Ja, du darfst ihn alleine machen.«

Strahlend rannte sie wieder nach oben.

Begeistert stieg Nadja die Treppe hinauf. Bestimmt hatte der Bruder ihres Vaters interessante Geschichten zu erzählen. Schließlich war er Soldat und ein Held. Der konnte ihr garantiert sagen, wie man Kampfpilotin wurde. Vielleicht war er ja sogar mit einer Pilotin verheiratet. Nadja machte die Tür zum Wohnzimmer auf, und im nächsten Moment blieb ihr die Luft weg. In ihrer Küche stand eine wunderschöne Frau. Ganz still stand sie da, eine Hand hinter dem Rücken, so als würde die Hand eines Riesen durchs Fenster greifen und sie da festhalten. Wie eine Puppe in einem Puppenstübchen.

Raisa hielt das Messer hinter ihrem Rücken verborgen, die Klinge eng an ihr Kleid gedrückt. Sie hatte Ewigkeiten draußen gewartet. Etwas musste schiefgegangen sein. Hoffentlich war Leo nichts zugestoßen. Sie würde nachsehen und die Sache notfalls selbst zu Ende bringen müssen. Kaum war sie durch die Tür, erkannte sie zu ihrer Erleichterung, dass sich nur wenige Menschen im Haus befanden. Es gab zwei Betten, eins für die Tochter und eins für die Mutter. Aber wer war das Mädchen da vor ihr? Wo war sie hergekommen? Sie strahlte vor Begeisterung. Nichts in diesem Haus deutete auf Angst oder Panik hin. Hier war niemand gestorben.

»Ich heiße Raisa. Ist mein Mann hier?«

»Meinst du Pavel?«

Pavel. Warum nannte er sich Pavel? Warum benutzte er seinen alten Namen? »Ja.«

»Ich bin Nadja. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe noch nie Verwandte von meinem Vater getroffen.«

Raisa hielt das Messer weiter hinter ihrem Rücken verborgen. Familie? Wovon redete die Kleine ? »Wo ist mein Mann?«

»Unten.«

»Ich will ihm nur schnell sagen, dass ich da bin.« Raisa ging zur Tür und hielt nun das Messer vor sich, damit Nadja die Klinge nicht sah. Sie drückte die Tür auf.

Langsam schlich Raisa die Treppe hinunter. Von unten hörte sie, wie sich Leute in ruhigem Ton unterhielten. Sie hielt das Messer ausgestreckt vor sich, es zitterte in ihrer Hand. Je länger sie wartete, bis sie den Mann tötete, desto schwieriger würde es werden. Vom Fuß der Treppe sah sie ihren Mann. Er spielte Karten.

Wassili befahl seinen Männern, das Haus zu umstellen. Hier würde keiner mehr rauskommen. Alles in allem hatte er fünfzehn Mann dabei, viele davon aus Rostow, und die konnte er nicht einschätzen. Nicht dass die am Ende alles nach Vorschrift machten und Leo und Raisa verhafteten. Wassili würde die Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Er würde die Angelegenheit hier zu Ende bringen und sicherstellen, dass alle Hinweise auf irgendwelche mildernden Umstände vernichtet wurden. Mit gezückter Waffe ging er los. Zwei seiner Moskauer Leute setzten sich ebenfalls in Bewegung. Er gab ihnen Zeichen, auf ihrem Platz zu bleiben. »Gebt mir fünf Minuten. Und kommt erst rein, wenn ich euch rufe. Ist das klar? Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, stürmt ihr das Haus und bringt alle um.«

Raisa hielt das Messer ausgestreckt in ihrer zitternden Hand. Sie konnte es einfach nicht. Sie konnte diesen Menschen nicht töten. Er spielte mit ihrem Mann Karten.

Leo kam auf sie zu. »Ich erledige das.«

»Warum spielst du Karten mit ihm?«

»Weil er mein Bruder ist.«

Oben schrie ein Mädchen auf. Dann wurde gebrüllt, die Stimme eines Mannes. Bevor irgendjemand reagieren konnte, war Wassili schon mit gezückter Waffe am Fuß der Treppe. Er musterte die Szene. Auch er konnte sich auf das Kartenspiel auf dem Tisch offensichtlich keinen Reim machen.