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Er hörte, wie sein Bruder seinen Namen rief. In vollem Lauf wandte er sich um und lächelte, eigentlich grinste er, weil er sich sicher war, außer Schussweite zu sein.

Es traf ihn ins Gesicht wie eine Faust. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, er hob vom Boden ab und hing eine Sekunde lang regelrecht in der Luft. Dann berührten seine Füße wieder den Boden, die Beine knickten ihm weg, und er platschte, weil er zu benommen war, um wenigstens die Hände auszustrecken, ungebremst in den Schnee. Einen Moment lang blieb er einfach so liegen und kapierte nicht, was passiert war. Er hatte Dreck, Kiesel, Spucke und Blut im Mund. Mit einem behandschuhten Finger tastete er vorsichtig zwischen seine Lippen. Seine Zähne fühlten sich rau an, als hätte man ihn gezwungen, Sand zu fressen. Da war eine Lücke. Ein Zahn war ausgeschlagen. Arkadi fing an zu heulen, spuckte in den Schnee und durchkämmte die Schweinerei nach seinem fehlenden Zahn. Irgendwie war es das Einzige, woran er jetzt denken konnte, das Einzige, was ihm wichtig war. Er musste seinen Zahn wiederfinden. Wo war sein Zahn? Aber er konnte ihn nicht finden, nicht in diesem weißen Schnee. Der Zahn war weg. Und es war nicht mal der Schmerz (obwohl es ganz schön weh tat), es war die Wut, der Zorn über diese Gemeinheit. Durfte er nicht ein einziges Mal gewinnen? Er hatte doch fair gewonnen. Konnte sein Bruder ihm das nicht gönnen? Nicht mal einen einzigen Sieg?

Jora rannte zu seinem Bruder. Kaum hatte der Klumpen aus Erde, Sand und Kieseln sich aus seiner Hand gelöst, hatte er seine Entscheidung schon bereut. Er hatte den Namen seines Bruders ge-schrien, damit der sich duckte und dem Ball auswich. Stattdessen hatte sein Bruder sich umgedreht und einen Volltreffer abgekriegt. Statt dass Jora ihm geholfen hatte, sah sein Warnruf jetzt aus wie eine ganz besonders heimtückische Finte. Als er näher kam, sah er Blut auf dem Schnee, und ihm wurde übel. Das war er gewesen. Ihre Schneeballschlachten machten ihm mehr Spaß als die meisten anderen Sachen, und jetzt hatte er sie in etwas Schreckliches verwandelt. Warum hatte er seinen Bruder nicht gewinnen lassen können? Morgen hätte er doch wieder gewonnen, und übermorgen und Tag um Tag darauf auch. Jora schämte sich.

Er ließ sich in den Schnee fallen und legte seinem kleinen Bruder die Hand auf die Schulter. Arkadi schüttelte sie ab und starrte ihn mit roten, tränennassen Augen und blutverschmiertem Mund an. Er sah aus wie eine wilde Bestie. Sagte keinen Ton. Sein Gesicht war wutverzerrt. Etwas unsicher rappelte er sich auf. »Arkadi?«

Statt einer Antwort riss Arkadi nur den Mund auf und schrie auf wie ein Tier. Alles, was Jora sehen konnte, war eine verdreckte Zahnreihe. Dann machte Arkadi kehrt und rannte weg.

»Arkadi! Warte!«

Aber Arkadi wartete nicht, blieb nicht stehen, wollte die Entschuldigung seines Bruders nicht hören. Er rannte, so schnell er konnte, und tastete dabei mit der Zunge nach der frischen Lücke in seinen Vorderzähnen. Er fand sie, befühlte mit der Zungenspitze den Gaumen und hoffte, dass er seinen Bruder nie mehr wiedersehen müsste.

14. Februar

Angestrengt blickte Leo zum Apartmentblock Nr. 18 hoch. Ein niedriger Betonklotz. Es war später Nachmittag und schon dunkel. Er hatte einen kompletten Arbeitstag mit etwas vergeudet, das ebenso unangenehm wie unwichtig war. Laut einem Milizbericht über besondere Vorkommnisse hatte man einen vier Jahre und zehn Monate alten Jungen tot auf den Bahngleisen gefunden. Der Junge hatte abends auf den Bahngleisen gespielt und war von einem Reisezug erfasst worden, dessen Räder ihn zerstückelt hatten. Der Lokführer des Neun-Uhr-Zuges nach Chabarowsk hatte beim ersten Halt durchgegeben, dass er nach dem Verlassen des Jaroslawer Bahnhofs einen flüchtigen Blick auf jemanden oder etwas auf den Gleisen erhascht habe. Ob tatsächlich sein Zug den Jungen erfasst hatte, war noch nicht erwiesen. Vielleicht wollte der Fahrer nicht zugeben, dass er das Kind überfahren hatte. Aber das musste man nicht vertiefen - ein tragischer Unfall, da stellte sich die Frage nach dem Schuldigen nicht.

Normalerweise hätte man die Sache schon zu den Akten gelegt. Und normalerweise wäre Leo Stepanowitsch Demidow, ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes MGB, mit einem solchen Vorfall nie befasst worden. Was konnte er hier schon ausrichten? Der Verlust eines Sohnes brach einer Familie und den Verwandten das Herz. Aber auf staatlicher Ebene spielte so etwas, offen gesagt, keine Rolle. Unvorsichtige Kinder waren nun wirklich keine Angelegenheit für die Staatssicherheit - außer sie hatten eine unvorsichtige Zunge. Diese spezielle Situation allerdings hatte sich unversehens verkompliziert. Die Trauer der Eltern hatte seltsame Formen angenommen. Offensichtlich konnten sie nicht hinnehmen, dass ihr Sohn - Leo las noch einmal im Bericht nach und prägte sich den Namen Arkadi Fjodorowitsch Andrejew ein -selbst an seinem Tod schuld war. Sie hatten herumerzählt, ihr Sohn sei ermordet worden. Von wem? Keine Ahnung. Warum? Keine Ahnung. Wie konnte so etwas überhaupt möglich sein? Auch keine Ahnung. Doch selbst ohne irgendwelche logischen oder plausiblen Argumente hatten sie die Macht des Mitgefühls auf ihrer Seite, und es war nicht auszuschließen, dass sie andere Leichtgläubige überzeugten: Nachbarn, Freunde und auch Fremde - wer immer ihnen zuhörte.

Es machte die Sache nicht besser, dass Fjodor Andrejew, der Vater des Jungen, selbst ein niederer Beamter des MGB und, wie der Zufall es wollte, einer von Leos Untergebenen war. Abgesehen von der Tatsache, dass er es hätte besser wissen müssen, berief er sich zur Untermauerung seiner unhaltbaren Ansicht auch noch auf sein Expertenwissen und brachte so den MGB in Misskredit. Er war zu weit gegangen, hatte zugelassen, dass seine Gefühle die Oberhand über sein Urteilsvermögen gewannen. Ohne die mildernden Umstände hätte Leos Aufgabe leicht darin bestehen können, den Mann zu verhaften. Die ganze Sache war verfahren, und Leo war gezwungen worden, sich vorübergehend von einem echten und heiklen Einsatz abziehen zu lassen, um die Angelegenheit ins Reine zu bringen.

Leo war nicht besonders erpicht auf die bevorstehende Konfrontation, also nahm er sich beim Erklimmen der Treppenstufen Zeit und sann darüber nach, wie er ausgerechnet in einem solchen Beruf hatte landen können - bei der Überwachung anderer Leute. Es war nie seine Absicht gewesen, in den Staatssicherheitsdienst einzutreten. Diese Laufbahn hatte sich aus seinem Militärdienst ergeben. Während des Großen Vaterländischen Krieges hatte man ihn einem Sonderkommando namens OMSBON zugeteilt, einer unabhängigen, Sonderoperationen vorbehaltenen Panzergrenadierbrigade. Das dritte und vierte Bataillon dieser Division hatte man aus dem Zentralinstitut für Körperkultur rekrutiert, wo Leo Student gewesen war. Diese Elite der Athletischsten und Gesündesten unter ihnen wurde ausgewählt und in ein Trainingslager in Mitischtschi nördlich von Moskau geschickt, wo man sie in Nahkampf, Waffenkunde, Fallschirmsprüngen aus niedriger Höhe und dem Umgang mit Sprengstoff unterrichtete. Das Lager gehörte zum NKWD, wie der Geheimdienst geheißen hatte, bevor die Staatssicherheitsabteilung zum MGB wurde. Die Bataillone waren nicht dem Militär, sondern unmittelbar dem NKWD unterstellt, und die Natur ihrer Missionen spiegelte dies auch wider. Sie wurden hinter feindliche Linien geschickt, wo sie die Infrastruktur zerstörten, spionierten, Feinde ermordeten - verdeckt operierende Nahkampfspezialisten.

Leo hatte die Unabhängigkeit bei seinen Operationen genossen, obwohl er diese Empfindung lieber für sich behielt. Die Tatsache oder vielleicht auch nur Illusion, sein Schicksal in den eigenen Händen zu haken, hatte ihm gefallen. Er war regelrecht aufgeblüht - mit dem Ergebnis, dass man ihm den Suworow-Orden zweiter Klasse verliehen hatte. Seine Besonnenheit, seine militärischen Erfolge, sein gutes Aussehen und vor allem sein unbedingter und aufrichtiger Glaube an sein Land hatten dazu geführt, dass er buchstäblich zum Plakatmotiv für die russische Befreiung der von Deutschland okkupierten Gebiete geworden war. Man hatte ihn mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen Soldaten aus verschiedenen Divisionen fotografiert, wie sie rings um das brennende Wrack eines deutschen Panzers standen, die Gewehre hochgereckt, mit Siegermiene und toten Feinden zu ihren Füßen, während von den schwelenden Dörfern im Hintergrund Rauch aufstieg. Tod und Zerstörung und triumphierendes Lächeln, und Leo mit seinem ebenmäßigen Gebiss und den breiten Schultern hatten sie ganz nach vorne geschoben. Eine Woche später hatte die >Prawda< das Foto auf der Titelseite abgedruckt, und danach hatten vollkommen Fremde, Soldaten ebenso wie Zivilisten, seine Hand schütteln und ihn umarmen wollen. Leo, ein Symbol des Sieges.