Sie hatten sich Namen für Namen durch Alexanders Liste gepflügt. Alexander hatte betont, die Tatsache, dass er sie erstellen könne, lasse nicht etwa Rückschlüsse auf seine Promiskuität zu, jedenfalls nicht in dem Maße, dass er mit über 1oo Männern sexuelle Kontakte gepflegt habe. Viele Namen auf der Liste gehörten zu Männern, denen er noch nie begegnet sei. Seine Informationen stammten aus Unterhaltungen mit den etwa zehn Männern, mit denen er sexuell verkehrt hatte. Jeder dieser Männer hatte von Verhältnissen mit wieder anderen Männern erzählt, und wenn man alle zusammennahm, ergab sich das Bild einer sexuellen Konstellation, in der jeder der Männer seinen Platz in Bezug auf die anderen kannte. Leo hatte sich Alexanders Erklärung angehört, und eine verborgene Welt hatte sich vor ihm aufgetan, eine hermetisch versiegelte Subexistenz innerhalb der Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung war, dass die Siegel intakt blieben. Alexander hatte erzählt, wie die Männer auf der Liste sich zufällig in Allerweltssituationen begegnet waren, beim Anstehen nach Brot, beim Essen am selben Tisch der Firmenkantine. In solch einer alltäglichen Umgebung waren zwanglose Gespräche verboten, höchstens einen Seitenblick konnte man sich leisten, und auch der musste noch kaschiert werden. Das waren die Regeln. Niemand hatte sie per Dekret verordnet, niemandem musste man sie erklären. Sie hatten sich einfach aus purem Selbsterhaltungstrieb ergeben.
Sobald die erste Welle der Verhaftungen angelaufen war, musste die Nachricht von einer Säuberungsaktion sich wie ein Lauffeuer unter ihresgleichen verbreitet haben. Die heimlichen Treffpunkte, die jetzt nicht mehr heimlich waren, wurden aufgegeben. Aber diese verzweifelte Gegenmaßnahme hatte nichts genutzt. Es gab ja die Liste. Die Siegel, die ihre Welt geschützt hatten, waren zerbrochen. Nesterow war gar nicht darauf angewiesen, jeden in einer sexuell eindeutigen Situation zu erwischen. Als sie ihre Namen schwarz auf weiß lasen und erkannten, dass man in ihre Reihen eingedrungen war, hatten sie einer nach dem anderen dem Druck dieses Verrats nachgegeben. Wie U-Boote, die lange un-entdeckt unter Wasser gefahren waren, mussten sie nun feststellen, dass man die Position jedes Einzelnen durchgegeben hatte. Und als sie dann gezwungen wurden aufzutauchen, hatte man sie alle vor eine Wahl gestellt, die ihnen eigentlich keine Wahl ließ, aber wählen konnten sie trotzdem: Entweder konnten sie die Vorwürfe der Sodomie anfechten und sich auf ein öffentliches Verfahren, eine sichere Verurteilung und Haft einstellen. Oder sie konnten auf den Homosexuellen unter ihnen zeigen, der für dieses schreckliche Verbrechen verantwortlich war, den Mord an einem halbwüchsigen Jungen.
Leo hatte den Eindruck, als scheine Nesterow zu glauben, dass all diese Männer an einer Art Krankheit litten. Während einige kaum befallen waren und sich nur mit Gefühlen für andere Männer plagten, so wie mancher normale Mensch unter ständigen Kopfschmerzen litt, waren andere ernsthaft erkrankt, und die Symptome drückten sich in ihrem Verlangen nach kleinen Jungen aus. Das war Homosexualität in ihrer schlimmsten Form. So ein Mann war der Mörder.
Als Leo ihnen Fotos vom Tatort vorgelegt hatte, Fotos von einem Jungen mit aufgeschlitztem Bauch, hatten alle Verdächtigen genau auf die gleiche Weise reagiert. Sie waren schockiert gewe-sen, oder zumindest hatte es den Anschein gehabt. Wer konnte nur so etwas machen? Von ihnen war es jedenfalls keiner gewesen, und auch niemand, den sie kannten. Keiner von ihnen war an Jungen interessiert. Viele hatten selbst Kinder. In einem Punkt war jeder der Männer entschlossen: Von einem Mörder in ihren Reihen wussten sie nichts, und sie würden ihn auch nicht decken, falls sie von einem erfuhren. Nesterow hatte binnen einer Woche mit einem Hauptverdächtigen gerechnet. Aber nach sieben Tagen hatten sie nichts weiter vorzuweisen als eine noch längere Liste. Weitere Namen wurden genannt, manche nur aus Boshaftigkeit. Aus der Liste war eine grausame, wirksame Waffe geworden. Manche Milizbeamte fügten die Namen ihrer Feinde hinzu und behaupteten, die Betreffenden seien in Geständnissen genannt worden. Wenn ein Name erst einmal auf der Liste auftauchte, dann war es praktisch unmöglich, sich für unschuldig zu erklären. Auf diese Weise war die Zahl der in Gewahrsam befindlichen Männer von 1oo auf annähernd 150 angewachsen.
Unzufrieden mit den mangelnden Fortschritten hatte der örtliche MGB vorgeschlagen, die Verhöre selbst zu übernehmen, was nichts anderes bedeutete als Folter. Zu Leos Bestürzung hatte Nesterow zugestimmt. Aber trotz blutbesudelter Fußböden hatte es keinen Durchbruch gegeben. Nesterow blieb wenig anderes übrig, als 150 Männer formell anklagen zu lassen, in der Hoffnung, dass das einen von ihnen zum Reden bringen würde. Es reichte offenbar nicht, dass man sie erniedrigt, beschämt und gefoltert hatte. Sie mussten begreifen, dass sie ihr Leben verlieren würden. Wenn man den Richter entsprechend instruierte, würden sie nicht nur die lumpigen fünf Jahre für Sodomie kriegen, sondern 25 Jahre wegen politischer Subversion. Ihre sexuelle Neigung würde als Verbrechen gegen das Gefüge des Staates selbst gewertet werden. Angesichts dieser Aussichten brachen drei der Männer zusammen und bezichtigten andere. Allerdings hatte sich jeder einen anderen ausgesucht. Nesterow konnte sich nicht eingestehen, dass seine Ermittlungsmethode wenig taugte, und verlegte sich darauf, dahinter eine Art perverser Verbrechersolidarität zu vermuten, einen Ehrenkodex von sexuellen Abweichlern.
Entsetzt sprach Leo mit seinem Vorgesetzten. »Diese Männer sind unschuldig!«
Nesterow sah ihn verdutzt an: »Diese Männer sind allesamt schuldig. Die Frage ist nur, wer auch eines Mordes schuldig ist.«
***
Raisa sah zu, wie Leo die Hacken seiner Stiefel aneinanderschlug. Batzen schmutzigen Schnees lösten sich. Er starrte zu Boden, ohne ihre Anwesenheit im Raum zu bemerken. Sie konnte seine Enttäuschung kaum ertragen. Er hatte tatsächlich daran geglaubt, mit seinen Ermittlungen eine Chance zu haben. Hatte seine Hoffnungen an irgendeinen spinnerten Wiedergutmachungstraum geknüpft, einen letzten Akt der Gerechtigkeit. In jener Nacht hatte sie ihn wegen dieser Idee verlacht. Aber der Lauf der Dinge hatte ihn eigentlich noch viel grausamer verspottet. Mit seinem Streben nach Gerechtigkeit hatte er nur Terror entfesselt. Bei der Hetzjagd auf einen Mörder würden 150 Männer ihr Leben verlieren, und wenn nicht buchstäblich, dann zumindest auf allen anderen Ebenen. Sie würden ihre Familie und ihr Heim verlieren. Als sie ihren Mann jetzt so dasitzen sah, mit hängenden Schultern und verhärmten Zügen, da wurde ihr klar, dass er nie etwas tat, ohne daran zu glauben. Es war nichts Zynisches oder Berechnendes an ihm. Wenn das stimmte, dann musste er auch an ihre Ehe geglaubt haben. Er musste geglaubt haben, dass sie auf Liebe gegründet war. Und die Phantasieträume, die er sich zurechtgelegt hatte, über den Staat, über ihre Beziehung, waren eine nach der anderen geplatzt. Raisa beneidete ihn. Selbst jetzt, nach allem, was geschehen war, konnte er immer noch hoffen. Er wollte immer noch an etwas glauben. Sie trat vor und setzte sich neben ihn aufs Bett. Zögerlich nahm sie seine Hand. Er schaute sie überrascht an, sagte aber nichts, nahm einfach nur ihre Geste an. Gemeinsam sahen sie den Schnee auf den Dielen schmelzen.