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20. März

Das Waisenhaus Nr. 80 war ein fünfstöckiger Ziegelbau mit einem verblichenen Schriftzug an einer Seitenwand: HARTE ARBEIT, LANGES LEBEN. Auf dem Dach ragte eine lange Reihe Schornsteine auf. Irgendwann hatte das Waisenhaus einmal eine kleine Fabrik beherbergt. An den vergitterten Fenstern hingen verdreckte Lumpen, die jeden Blick nach drinnen verwehrten. Leo klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er drückte auf die Klinke. Es war abgeschlossen. Er ging zu einem der Fenster und klopfte gegen die Scheibe. Die Lumpen wurden zurückgerissen. Für kaum eine Sekunde zeigte sich das Gesicht eines kleinen Mädchens, ein dreckstarrendes Gespenst, bevor die Vorhänge wieder zugezogen wurden. Nach langem Warten öffnete sich schließlich die Hauptpforte. Ein älterer Mann mit einem Bund Messingschlüssel starrte die beiden Beamten an. Als er ihre Uniformen bemerkte, wich der Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht dem der Beflissenheit. Er neigte leicht den Kopf. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind wegen des ermordeten Jungen hier.«

Die Eingangshalle des Waisenhauses war früher einmal die Fabriketage gewesen. Man hatte die Maschinen abgebaut und den Raum in einen Speisesaal verwandelt. Nicht etwa, indem man Tische und Stühle aufgestellt hatte, denn die gab es nicht, sondern einfach dadurch, dass überall auf dem Boden Kinder aneinandergequetscht im Schneidersitz saßen und zu essen versuchten. Jedes Kind umklammerte eine Holzschale, die mit etwas gefüllt war, das wie wässrige Kohlsuppe aussah. Aber offenbar hatten nur die ältesten Kinder Löffel. Die anderen warteten entweder auf einen Löffel oder tranken einfach aus der Schale. Wenn ein Kind fertig gegessen hatte, leckte es den Löffel von oben bis unten ab, bevor es ihn an das nächste Kind weitergab.

Es war Leos erster Eindruck von einem staatlichen Waisenhaus. Er trat näher heran und sah sich im Saal um. Schwer zu schätzen, wie viele Kinder hier versammelt waren, vielleicht 200 oder 300, im Alter von vier bis vierzehn Jahren. Keines schenkte Leo irgendeine Beachtung, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, zu essen oder ihre Nachbarn im Auge zu behalten und auf einen Löffel zu warten. Alles, was man hörte, war das Kratzen in den Schalen und das Schlürfen. Leo wandte sich an den älteren Mann: »Sind Sie der Direktor dieser Institution?«

Das Büro des Direktors lag im ersten Stock. Von hier blickte man auf die Fabriketage voller Kinder, als stammten sie aus der Massenproduktion. Im Büro befanden sich mehrere halbwüchsige Jungen, älter als die unten. Sie spielten auf dem Schreibtisch des Direktors Karten. Der Direktor klatschte in die Hände: »Spielt bitte in eurem Zimmer weiter.«

Die Jungen starrten Leo und Moisejew an. Ihr Ärger rührte wohl daher, dass man ihnen befahl, was sie machen sollten, vermutete Leo. Sie hatten kluge Augen, deren Weisheit nicht ihrem Alter entsprach. Ohne ein Wort scharten sie sich zusammen wie ein Rudel Wölfe, sammelten ihre Karten und die als Einsatz zweckentfremdeten Streichhölzer ein und gingen.

Nachdem sie weg waren, goss der Direktor sich etwas zu trinken ein und bedeutete Leo und Moisejew, sich zu setzen. Moisejew nahm Platz, während Leo stehen blieb und den Raum musterte. Es gab einen einzelnen metallenen Aktenschrank. Die unterste Schublade war von einem Tritt eingedellt, die oberste stand teilweise offen, und nach allen Seiten quollen Akten hervor.

»Im Wald ist ein Junge ermordet worden. Haben Sie davon gehört?«

»Es waren schon andere Beamte da. Sie haben mir Fotos von dem Jungen gezeigt und mich gefragt, ob ich wisse, wer er ist. Leider nein.«

»Aber Sie könnten nicht mit Sicherheit sagen, dass eines Ihrer Kinder fehlt, oder?«

Der Direktor kratzte sich am Ohr. »Wir sind zu viert und kümmern uns um ungefähr 300 Kinder. Die Kinder kommen und gehen. Ständig gibt es Nachschub. Sie müssen unsere mangelhafte Buchführung verzeihen.«

»Gehen irgendwelche Kinder aus dieser Einrichtung der Prostitution nach?«

»Die älteren machen, was sie wollen. Ich kann ihnen ja keine Etiketten anhängen. Betrinken sie sich? Ja. Prostituieren sie sich? Gut möglich, obwohl ich es nicht billige, nicht darin verwickelt bin und ganz gewiss nicht davon profitiere. Meine vorrangige Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen haben. Und angesichts der Mittel, die ich zur Verfügung habe, mache ich das sehr gut. Nicht, dass ich ein Lob erwarte.«

Der Direktor führte sie nach oben zu den Schlafsälen. Als sie am Waschraum vorbeikamen, bemerkte er: »Sie glauben vielleicht, dass mir das Wohlergehen der Kinder egal ist. Das stimmt aber nicht, ich tue mein Bestes. Ich sehe zu, dass sie sich einmal pro Woche waschen, ich kümmere mich darum, dass sie einmal im Monat geschoren und entlaust werden. Wir kochen ihre Kleider aus. Ich dulde hier keine Läuse. Gehen Sie mal in ein anderes Waisenhaus, da wimmeln die Haare der Kinder nur so davon, selbst in den Augenbrauen sitzen sie. Widerlich. Hier gibt es das nicht. Nicht, dass sie mir dafür dankbar wären.«

»Wäre es möglich, dass wir selbst einmal mit den Kindern sprechen? Vielleicht schüchtert Ihre Gegenwart sie ein.«

Der Direktor lächelte. »Einschüchtern tue ich sie bestimmt nicht. Aber bitte ...« Er wies eine Treppe hinauf. »Die Älteren wohnen ganz oben. Sie haben da praktisch ihr eigenes Reich.«

In den oberen Schlafzimmern, die sich unter dem Dach duckten, gab es keine Bettgestelle, nur hier und da eine dünne Matratze auf dem Fußboden. Die älteren Kinder nahmen ihr Mittagessen offensichtlich ein, wann es ihnen passte. Bestimmt hatten sie schon gegessen und sich das Beste gesichert.

Leo betrat den ersten Raum des Flurs. Er erhaschte einen Blick auf ein Mädchen, das sich hinter der Tür verbarg, und sah etwas Metallisches glitzern. Sie war mit einem Messer bewaffnet. Als sie die Uniform sah, ließ sie es in den Falten ihres Kleides verschwinden. »Wir dachten, es wären die Jungs. Die dürfen hier nämlich nicht rein.«

Etwa zwanzig Mädchen, vermutlich zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt, starrten Leo mit verhärteten Gesichtern an. Plötzlich musste Leo wieder daran denken, wie er Anatoli Brodsky zugesichert hatte, dass die beiden Töchter es in der Obhut eines Moskauer Waisenhauses gut haben würden. Es war ein leeres, ignorantes Versprechen gewesen, das verstand Leo jetzt. Brodsky hatte recht gehabt. Die beiden Mädchen wären auf sich allein gestellt besser dran gewesen, wenn die eine auf die andere aufgepasst hätte. »Wo schlafen die Jungen?«

Die älteren Jungen, von denen einige im Büro des Direktors gewesen waren, hockten aneinandergekauert in der hintersten Ecke ihres Raumes und warteten auf sie. Leo ging zu ihnen, kniete sich hin und legte ein Fotoalbum vor sie auf den Boden. »Ich möchte, dass ihr euch diese Fotos anschaut und mir sagt, ob einer dieser Männer sich euch schon einmal genähert oder euch Geld für sexuelle Gefälligkeiten angeboten hat.«