Er machte die Tür des Fahrkartenschalters zu, schloss hinter sich ab und schaute auf die große Bahnhofsuhr. Er steckte die Schlüssel in die Tasche und ging hinaus auf den Bahnsteig. Ein Paar wartete auf den Zug. Er kannte sie vom Sehen, aber nicht mit Namen. Sie winkten ihm zu, und er winkte zurück. Er ging weiter bis zum Ende des Bahnsteigs und sah den Zug näherkommen. Er war pünktlich. Alexander kletterte vom Bahnsteig hinunter, stellte sich mitten auf die Gleise und starrte hinauf in den nächtlichen Himmel.
Er hoffte, dass seine Eltern dem Brief Glauben schenken würden, den er ihnen hinterlassen hatte. Darin hatte er erklärt, dass er nie über die Enttäuschung hinweggekommen war, kein Langstreckenläufer geworden zu sein. Und dass er sich nie verziehen hatte, seinen Vater enttäuscht zu haben.
Am selben Tag
Seit vier Jahren versprach Nesterow seiner Familie nun schon bessere Wohnbedingungen, und bis vor kurzem hatte er dieses Versprechen auch regelmäßig wiederholt. Aber jetzt glaubte er selbst nicht mehr daran, dass man ihm eine bessere Behausung zuweisen würde. Glaubte nicht mehr daran, dass sich, wenn er nur hart arbeitete und seine Frau hart arbeitete, dies auch in materiellen Vergünstigungen niederschlagen würde.
Sie wohnten am Stadtrand, in der Kropotkinski-Straße, die nicht weit von den Sägewerken entfernt lag. Die Häuser in dieser Straße hatte man aufs Geratewohl zusammengezimmert, alle waren unterschiedlich groß und sahen verschieden aus. Nesterow verwandte viel seiner freien Zeit auf Heimwerker-Arbeiten, er war ein tüchtiger Schreiner und hatte bereits die Fenster und Türen ausgetauscht. Aber im Laufe der Jahre hatte sich das Fundament gesenkt, sodass die Vorderfront des Hauses sich jetzt in schiefem Winkel vorneigte und die Tür sich nur noch so weit öffnen ließ, bis sie sich im Boden verkeilte.
Vor einigen Jahren hatte er einen kleinen Raum angebaut, den er als Werkstatt nutzte. Er und seine Frau Inessa tischlerten Stühle und Tische und hielten das Haus in Schuss, soweit es eben ging. Und das taten sie nicht nur für ihre eigene Familie, sondern für alle Leute in der Straße. Man musste ihnen lediglich das Material stellen und vielleicht als freundliche Geste etwas zu essen oder zu trinken vorbeibringen.
Aber letzten Endes konnte keine Flickschusterei es mit den Unzulänglichkeiten des Anwesens aufnehmen. Es gab kein fließendes Wasser, und der nächste Brunnen lag zehn Minuten weit weg. Dementsprechend gab es auch nur ein Plumpsklo hinterm Haus. Als sie eingezogen waren, war es völlig verdreckt gewesen und schon beinahe in sich zusammengefallen. Die Grube war viel zu flach gewesen, und man hatte es kaum betreten können, ohne dass der Gestank einem Brechreiz verursachte. Nesterow hatte in Tag-und Nachtschichten an einer anderen Stelle ein neues Plumpsklo errichtet, mit soliden Wänden, einer viel tieferen Grube und einem Eimer mit Sägemehl, das man danach drüberstreuen konnte. Trotzdem war ihm bewusst, dass seine Familie nichts von den modernen Errungenschaften an Komfort und Hygiene mitbekam und auch keine Aussicht auf Besserung in Sicht war. Er war jetzt 40 Jahre alt. Sein Gehalt war geringer als das, was viele der etwa Zwanzigjährigen in der Auto-Fabrik verdienten. Seine Bemühungen, seiner Familie ein anständiges Heim zu schaffen, hatten zu nichts geführt.
An der Haustür klopfte es. Es war schon spät. Nesterow war immer noch in Uniform. Er konnte hören, wie Inessa aufmachte. Einen Moment später erschien sie in der Küche. »Es ist jemand für dich. Von der Arbeit. Ich kenne ihn nicht.«
Nesterow ging in den Flur. Draußen stand Leo. Nesterow wandte sich zu seiner Frau um. »Ich kümmere mich schon darum.«
»Kommt er herein?«
»Nein, es dauert nicht lange.« Inessa warf Leo einen Blick zu und ging. Nesterow trat nach draußen und schloss die Tür.
Leo war den ganzen Weg hierher zu Fuß gelaufen. Die Nachricht von Alexanders Tod hatte ihn jeder Urteilsfähigkeit beraubt. Es war nicht mehr die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, die ihn die ganze Woche über gequält hatten. Er fühlte sich nur noch aus den Angeln gehoben, Teil einer entsetzlichen, absurden Scharade, ein Spieler in einer grotesken Farce. Der naive Träumer, der nach Gerechtigkeit strebt und dabei eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Sein Bemühen, einen Mörder zu fassen, hatte sich in nichts als Blutvergießen verwandelt. Raisa hatte es von Anfang an gewusst, schon im Wald und auch vorgestern Abend. Sie hatte versucht, ihn zu warnen, und er war einfach weiter vorangeprescht wie ein abenteuerlustiges Kind. Was kann ich allein schon ausrichten?
Jetzt hatte er seine Antwort: 200 Menschenleben ruiniert, ein junger Mann tot, ein Arzt ebenfalls tot. Der Körper eines jungen Mannes war von einem Zug in zwei Hälften getrennt worden. Das also war die Frucht seiner Mühe. Dafür hatte er sein Leben riskiert. Und Raisas Leben. Das war das Ergebnis seiner Sühne.
»Alexander ist tot. Er hat sich umgebracht. Hat sich vor den Zug geworfen.«
Nesterow ließ den Kopf sinken. »Es tut mir leid, das zu hören. Wir haben ihm die Chance gegeben, sich wieder in den Griff zu bekommen. Aber vielleicht konnte er das nicht. Vielleicht war er zu krank.«
»Wir sind für seinen Tod verantwortlich.«
»Nein, er war krank.«
»Er war erst 22. Er hatte eine Mutter und einen Vater und ging gern ins Kino. Und jetzt ist er tot. Aber das Gute daran ist, wenn wir jetzt noch ein totes Kind finden, können wir es einfach ihm in die Schuhe schieben und den Fall in Rekordzeit lösen.«
»Das reicht.«
»Warum tun Sie das? Am Geld oder irgendwelchen Vergünstigungen kann es ja wohl nicht liegen.« Leo starrte Nesterows windschiefes Haus an.
Der antwortete: »Tjapkin hat sich umgebracht, weil er schuldig war.«
»Sobald wir angefangen haben, diese Männer zu verhaften, hat er doch gewusst, dass wir die Kinder befragen und ihn finden würden.«
»Er hatte die medizinischen Kenntnisse, um zu wissen, wie man einem Kind den Magen herausschneidet. Hinsichtlich des Mordes an dem Mädchen hat er Ihnen gegenüber eine Falschaussage gemacht, um uns zu verwirren. Er war hinterhältig und gerissen.«
»Er hat mir die Wahrheit gesagt. Der Magen des Mädchens war herausgeschnitten. Ihr Mund war mit Rinde vollgestopft. Genauso war der Magen des Jungen herausgeschnitten, und sein Mund war auch voller Rinde. Sie hatte eine Schnur am Fußgelenk, der Junge auch. Sie wurden von ein und demselben umgebracht. Und das war weder Doktor Tjapkin noch der junge Warlam Babinitsch.«
»Gehen Sie nach Hause.«
»In Moskau hat es einen Toten gegeben. Ein kleiner Junge namens Arkadi, noch nicht mal fünf Jahre alt. Ich habe seine Leiche nicht selbst gesehen, aber mir wurde gesagt, dass er nackt aufgefunden wurde, mit aufgeschlitztem Bauch, und in seinem Mund steckte irgendein Zeug. Ich vermute, er war mit Rinde vollgestopft.«
»Ach, jetzt gibt es auf einmal einen Mord in Moskau? Das kommt ja wie gerufen, Leo. Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Ich habe es auch nicht geglaubt. Ich stand vor den trauernden Angehörigen, die behaupteten, ihr Sohn sei ermordet worden, und ich habe es ihnen nicht geglaubt. Ich sagte ihnen, dass es nicht stimme. Wie viele solcher Vorkommnisse sind noch vertuscht worden?