Wir wissen es nicht und können es auch nicht herausfinden. Unser System ist perfekt darauf ausgerichtet, dass dieser Kerl so viele Menschen umbringen kann, wie er will. Und er wird weiter morden, und wir werden immer weiter die falschen Leute einsperren, Unschuldige, Leute, die wir nicht mögen oder mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Und er wird immer weitermorden.«
Nesterow traute diesem Mann nicht. Er hatte ihm von Anfang an nicht getraut, und ganz bestimmt würde er sich von ihm nicht irgendwelche kritischen Bemerkungen über den Staat entlocken lassen. Er ließ Leo stehen und griff nach der Haustür.
Leo riss ihn an der Schulter herum, sodass sie sich wieder Auge in Auge gegenüberstanden. Eigentlich hatte er noch etwas vorbringen wollen, den anderen mit Vernunft und Logik überzeugen, aber ihm fiel nichts mehr ein, und so schlug er einfach zu. Es war ein guter Schlag, ein harter Schlag. Nesterows Kopf wurde zur Seite geschleudert. So verharrte er einen Moment, den Kopf zur Seite gelegt. Dann wandte er das Gesicht langsam seinem Untergebenen zu. Leo versuchte, mit fester Stimme zu sprechen: »Wir haben überhaupt nichts aufgeklärt.«
Nesterow haute ihn einfach um. Leo krachte zu Boden und landete auf dem Rücken. Es tat nicht weh. Noch nicht. Nesterow starrte zu ihm hinab und befühlte sein Kinn. »Gehen Sie nach Hause.«
Leo rappelte sich hoch. »Wir haben überhaupt nichts aufgeklärt.«
Er schlug noch einmal zu. Nesterow parierte und schlug zurück. Leo duckte sich. Er war ein guter Kämpfer, durchtrainiert und erfahren. Aber Nesterow war größer und trotz seiner Größe schnell auf den Beinen. Leo erhielt einen Schlag in den Magen und knickte ein. Nesterow traf ihn ein zweites Mal, diesmal seitlich im ungeschützten Gesicht. Leo fiel auf die Knie, sein Kinn war aufgeplatzt. Mit verschleiertem Blick kippte er vornüber und schlug hin. Er rollte sich auf den Rücken und keuchte. Nesterow stand über ihm. »Gehen Sie nach Hause.«
Als Antwort trat Leo ihm direkt in die Weichteile. Nesterow schlingerte zurück und krümmte sich. Leo rappelte sich torkelnd auf. »Wir haben gar nichts ...«
Bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, sprang Nesterow vor und prallte gegen ihn, warf ihn zu Boden und lag nun auf ihm. Er schlug ihn in den Magen, ins Gesicht, wieder in den Magen, ins Gesicht. Leo lag da und musste einen Schlag nach dem anderen einstecken, ohne sich wehren zu können. Nesterows Knöchel waren blutig geschlagen. Er ließ von Leo ab und keuchte. Leo rührte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen. Aus einer geplatzten Augenbraue lief ihm Blut ins rechte Auge. Nesterow stand auf, sah Leo an und schüttelte den Kopf. Er ging zur Haustür und wischte sich das Blut am Hosenbein ab. Als er schon die Hand am Türknauf hatte, hörte er hinter sich ein Geräusch.
Vor Schmerzen zusammenzuckend kämpfte Leo sich hoch. Er stand unsicher auf den Beinen, hob aber die Fäuste, als wolle er weiterkämpfen. Wie in einem Boot auf dem Meer schwankte er hin und her. Er konnte nur ahnen, wo Nesterow sich befand. Flüsternd stieß er hervor. »Wir ... haben ... überhaupt nichts ... aufgeklärt.«
Nesterow sah, wie Leo wankte. Mit geballten Fäusten ging er auf ihn los und wollte ihn niederschlagen. Leo schlug zu, ein aussichtsloser, erbärmlicher Schlag. Nesterow machte einen Ausfallschritt und bekam ihn unter den Armen zu fassen, als Leos Beine auch schon wegsackten.
***
Leo saß am Küchentisch, Inessa hatte auf dem Herd etwas Wasser heiß gemacht, das sie jetzt in eine Schale goss. Nesterow tunkte einen Lappen hinein und überließ es Leo, sich das Gesicht zu säubern. Seine Lippe war aufgesprungen, und aus einer Augenbraue blutete es. Der Schmerz in seinem Magen hatte aufgehört. Leo drückte einen Finger auf seine Brust und die Rippen, aber es fühlte sich nichts gebrochen an. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, er konnte es nicht aufmachen. Aber das war ein relativ geringer Preis, um Nesterows Aufmerksamkeit zu erringen. Leo fragte sich, ob sich seine Sache hier drinnen auch nur im Geringsten überzeugender anhören würde als draußen und ob Nesterow es sich leisten konnte, sich vor seiner Frau genauso desinteressiert zu zeigen, wo doch ihre Kinder im Zimmer nebenan schliefen.
»Wie viele Kinder haben Sie?«
Es war Inessa, die antwortete. »Wir haben zwei Jungen.«
»Gehen sie auf dem Weg zur Schule durch den Wald?«
»Zumindest früher.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Wir lassen sie den Weg durch die Stadt nehmen. Es ist weiter, und sie maulen. Ich muss sie begleiten, damit sie nicht doch heimlich durch den Wald gehen. Auf dem Nachhauseweg bleibt uns nichts übrig, als ihnen zu vertrauen. Wir arbeiten ja beide.«
»Gehen sie denn morgen wieder durch den Wald? Wo doch der Mörder jetzt gefasst ist?«
Nesterow stand auf und stellte ein Glas vor Leo hin. »Möchten Sie vielleicht was Stärkeres?«
»Wenn Sie was dahaben.«
Nesterow holte eine halbe Flasche Wodka hervor und goss drei Gläser ein, eins für sich, eins für seine Frau und eins für Leo. Der Wodka brannte auf der Wunde in Leos Mund. Vielleicht half es ja sogar.
Nesterow setzte sich und goss Leo nach. »Warum sind Sie in Wualsk?«
Leo tauchte den blutigen Lappen in die Wasserschale, drückte ihn aus und hielt ihn sich ans Auge. »Ich bin hier, um die Morde an diesen Kindern aufzudecken.«
»Das ist eine Lüge.«
Leo musste das Vertrauen dieses Mannes gewinnen. Ohne seine Hilfe konnte er nichts weiter unternehmen. »Sie haben recht. Aber es gab in Moskau einen Mord. Ich hatte nicht den Auftrag, in der Sache zu ermitteln. Ich hatte den Auftrag, sie unter den Teppich zu kehren. Was das betrifft, habe ich meine Pflicht erfüllt. Nicht erfüllt habe ich sie, als ich mich weigerte, meine Frau als Spionin zu denunzieren. Man betrachtete mich als kompromittiert. Zur Strafe wurde ich hierher geschickt.«
»Dann sind Sie also tatsächlich ein in Ungnade gefallener Offizier?«
»Ja.«
»Und warum veranstalten Sie dann das hier?«
»Weil drei Kinder ermordet worden sind.«
»Sie glauben nicht, dass Warlam Larissa umgebracht hat, weil Sie sich sicher sind, dass Larissa nicht das erste Opfer dieses Mörders war, habe ich recht?«
»Larissa war bestimmt nicht sein erstes Opfer. Jedenfalls kann ich es mir nicht vorstellen. Der hat das schon öfter gemacht. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass der Junge in Moskau auch nicht sein erstes Opfer war.«
»Hier in dieser Stadt war Larissa das erste Kind. Das ist die Wahrheit. Ich kann es beschwören.«
»Der Mörder wohnt nicht in Wualsk. Die Morde sind in der Nähe des Bahnhofs geschehen. Er reist.«
»Er reist? Und er bringt Kinder um? Was für ein Mann würde so was machen?«
»Keine Ahnung. Aber in Moskau gibt es eine Frau, die ihn gesehen hat. Zusammen mit dem Opfer. Eine Augenzeugin, die den Mann beschreiben kann. Und wir brauchten die Akten über seine Taten aus allen Städten zwischen Swerdlowsk und Leningrad.«
»Aber die Akten sind nicht zentral erfasst.«
»Deshalb müssen Sie auch in jede Stadt fahren und einzeln alle Akten zusammensuchen. Sie müssen Ihre Kollegen überzeugen, und wenn sie sich weigern, dann müssen Sie eben mit den Leuten reden, die dort wohnen.«
Es war eine geradezu haarsträubende Idee. Eigentlich zum Lachen. Stattdessen fragte Nesterow: »Warum sollte ich das für Sie tun?«
»Nicht für mich. Sie haben doch selbst gesehen, was er den Kindern antut. Tun Sie es für die Menschen um uns herum. Unsere Nachbarn, die Leute, die neben uns im Zug sitzen. Tun Sie es für all die Kinder, die wir noch nicht einmal kennen und nie kennenlernen werden. Ich selbst habe nicht die Befugnis, nach diesen Akten zu fragen. Ich kenne auch niemanden in der Miliz. Sie schon. Sie kennen die Kollegen, und die vertrauen Ihnen. Sie kommen an die Akten heran. Sie müssen nach den Fällen ermordeter Kinder suchen, aufgeklärten ebenso wie unaufgeklärten. Es existiert ein Muster: der mit Rinde vollgestopfte Mund und der fehlende Magen. Die Leichen sind wahrscheinlich alle irgendwo im Freien gefunden worden: in Wäldern, an Flüssen, vielleicht in der Nähe von Bahnhöfen. Sie haben Schnur um die Fußgelenke.«