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»Und wenn ich nichts finde?«

»Wenn ich schon durch Zufall über drei gestolpert bin, dann gibt es garantiert noch mehr.«

»Ich würde ein großes Risiko eingehen.«

»Allerdings. Und Sie würden lügen müssen. Sie könnten niemandem den wahren Grund verraten, nicht mal Ihren eigenen Leuten. Sie könnten niemandem vertrauen. Und als Dank für Ihre Tapferkeit könnten Ihre Frau und die Kinder im Gulag enden und Sie unter der Erde. So sieht mein Angebot aus.«

Leo streckte über den Tisch hinweg die Hand aus. »Werden Sie mir helfen?«

Nesterow ging zum Fenster und blieb neben seiner Frau stehen. Sie sah ihn nicht an, sondern ließ nur den Wodka auf dem Grund ihres Glases kreisen. Würde er seine Familie und sein Heim riskieren, alles, wofür er gearbeitet hatte?

»Nein.«

Südöstliche Rostower Oblast

Westlich der Stadt Gukowo

2. April

Petja war schon vor Sonnenaufgang wach. Er saß auf der kalten Steintreppe ihres Bauernhauses und wartete ungeduldig darauf, dass die Sonne aufging, damit er seine Eltern um Erlaubnis fragen konnte, in die Stadt zu gehen. Nach Monaten des Sparens hatte er nun genug Geld, um sich noch eine Marke zu kaufen, und damit wäre er auf der letzten Seite seines Albums angelangt. Zu seinem fünften Geburtstag hatte ihm sein Vater den ersten Satz Briefmarken geschenkt. Petja hatte sie sich zwar nicht gewünscht, aber dann hatte er doch Gefallen an diesem Steckenpferd gefunden. Erst zögerlich und dann immer beharrlicher hatte er es verfolgt, bis er davon besessen gewesen war. In den letzten beiden Jahren hatte er auch Briefmarken von anderen Familien aus der Kolchose gesammelt, dem Bauernkollektiv Nr. 12, dem Hof, dem seine Eltern zugewiesen worden waren. Er hatte sogar Zufallsbekanntschaften in der nächstgelegenen Stadt Gukowo angesprochen in der Hoffnung, dass sie ihm ihre Briefmarken überlassen würden. Als seine Sammlung angewachsen war, hatte er sich ein billiges Pappalbum gekauft, in das er die Marken fein säuberlich einklebte. Er verwahrte es in einer Holzkiste, die sein Vater ihm gebastelt hatte, damit den Marken nichts passierte. Die Kiste war notwendig geworden, weil Petja nachts nicht mehr schlafen konnte und immer nachschaute, ob nicht etwa das Dach undicht war oder die Ratten seine kostbaren Seiten anknabberten. Doch von allen Briefmarken, die er gesammelt hatte, waren ihm die ersten vier, die ihm sein Vater geschenkt hatte, die liebsten.

Gelegentlich schenkten ihm seine Eltern eine Kopeke außer der Reihe. Nicht etwa, weil sie sie übrig gehabt hätten. Petja war alt genug, um zu verstehen, dass sie kein Geld zum Fenster hinauswerfen konnten, und als Gegenleistung bemühte er sich immer, ein paar zusätzliche Arbeiten auf dem Hof zu verrichten. Er musste lange sparen, es dauerte immer Monate, in denen er nichts anderes machen konnte, als sich vorzustellen, welche Briefmarke er als Nächstes kaufen würde. Gestern Abend hatte ihm seine Mutter noch eine Kopeke geschenkt, was keine weise Entscheidung gewesen war. Nicht etwa, weil sie etwas dagegen hatte, dass er sich Briefmarken kaufte, sondern weil sie wusste, dass er vermutlich die ganze Nacht nicht würde schlafen können. Genauso war es dann auch gekommen.

Als die Sonne aufging, trat Petja ins Haus. Seine Mutter bestand darauf, dass er zuerst eine Schale Haferflocken aß, bevor er irgendwo hinging. Petja schlang sie so schnell wie möglich hinunter und achtete nicht auf die Mahnungen seiner Mutter, er würde Bauchweh bekommen, Kaum war er fertig, rannte er aus dem Haus und hin zu dem Pfad, der sich durch die Felder bis zur Stadt schlängelte. Dann ließ er sich in einen leichten Trab zurückfallen. Die Geschäfte würden noch gar nicht offen sein, da konnte er ebenso gut seine Vorfreude auskosten.

In Gukowo war der Kiosk, der Briefmarken und Zeitungen verkaufte, noch geschlossen. Petja hatte keine Uhr, und er wusste auch nicht genau, wann der Kiosk aufmachte, aber es machte ihm nichts aus zu warten. Es war aufregend, in der Stadt zu sein und zu wissen, dass er genug Geld für eine neue Briefmarke hatte. So wanderte er zunächst ohne bestimmtes Ziel durch die Straßen. Beim Bahnhof der Elektritschka macht er Halt, denn er wusste, da drinnen gab es eine Uhr. Es war zehn vor acht. Petja war schon mit der Elektritschka gefahren. Das war ein langsamer Zug, der bis Rostow an jeder Milchkanne hielt. Zwar war er mit seinen Eltern noch nie weiter als bis Rostow gekommen, aber manchmal war er schon mit seinen Freunden einfach nur in den Zug gestiegen, weil man da umsonst fahren konnte. Fahrkartenkontrollen gab es selten.

Petja wollte gerade zum Kiosk zurückkehren und seine Briefmarke kaufen, da setzte sich ein Mann neben ihn. Er hatte schicke Sachen an und einen schwarzen Koffer dabei, den er zwischen seinen Beinen abstellte, als habe er Angst, jemand würde damit stiften gehen. Petja guckte dem Mann ins Gesicht. Er hatte eine Brille mit dicken Gläsern auf und ordentlich frisiertes schwarzes Haar. Er war noch nicht richtig alt, grauhaarig und so, aber wirklich jung war er auch nicht mehr. Petjas Anwesenheit schien er gar nicht bemerkt zu haben. Gerade wollte Petja aufstehen und gehen, als der Mann den Kopf wandte und ihn anlächelte. »Und, wohin geht’s heute?«

»Nirgendwohin. Jedenfalls nicht mit dem Zug, meine ich. Ich sitze hier nur herum.« Man hatte ihm beigebracht, zu Erwachsenen stets höflich und respektvoll zu sein.

»Das ist aber ein seltsamer Ort, um einfach nur so herumzusitzen.«

»Ich möchte mir eine Briefmarke kaufen, aber der Kiosk ist noch nicht offen. Aber vielleicht hat er ja inzwischen aufgemacht, ich sehe besser mal nach.«

Als er das hörte, wandte der Mann sich ganz zu ihm um. »Sammelst du etwa Briefmarken?«

»Genau.«

»Als ich so alt war wie du, war ich auch ein Briefmarkensammler.«

Petja lehnte sich zurück und machte es sich bequem. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der auch Briefmarken sammelte.

»Haben Sie neue oder gestempelte Briefmarken gesammelt?«

»Meine waren alle postfrisch. Ich habe sie in einem Kiosk gekauft. Genau wie du.«

»Ich wünschte, meine wären auch alle neu. Aber die meisten sind schon gebraucht. Ich habe sie aus alten Umschlägen ausgeschnitten.« Petja griff in seine Tasche, zog seine paar Kopeken heraus und zeigte sie dem Mann. »Drei Monate habe ich dafür gespart.«

Der Mann besah sich das Häuflein Münzen. »So lange für so wenig.«

Petja betrachtete seine Ersparnisse. Der Mann hatte recht. Besonders viel hatte er nicht. Und da wurde ihm klar, dass er nie besonders viel haben würde, und das verdarb ihm den ganzen Spaß. Er würde niemals eine große Sammlung haben. Andere würden immer mehr haben als er, egal wie hart er arbeitete, das konnte er im Leben nicht aufholen. Besser, wenn er ging. Entmutigt wollte er schon aufstehen, als der Mann fragte: »Bist du auch ordentlich?«

»Jawohl.«

»Passt du gut auf deine Briefmarken auf?«

»Ich passe sehr gut auf sie auf. Ich habe sie alle in ein Album geklebt, und mein Papa hat mir eine Holzkiste gebastelt, damit an das Album auch nichts drankommt. Manchmal regnet es durchs Dach. Und manchmal gibt es auch Ratten.«