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»Das ist schlau, das Album sicher zu verstauen. Ich habe es auch so gemacht, als ich so alt war wie du. Meins habe ich in einer Schublade verwahrt.«

Der Mann schien etwas abzuwägen. »Pass mal auf. Ich habe selber Kinder, zwei kleine Mädchen, aber keins davon interessiert sich für Briefmarken. Sie sind beide unordentlich. Ich selbst habe keine Zeit mehr für meine Briefmarken, dafür muss ich zu viel arbeiten. Verstehst du das? Deine Eltern haben doch bestimmt auch viel Arbeit.«

»Von morgens bis abends.«

»Die haben doch bestimmt auch keine Zeit für Briefmarken, oder?«

»Nein.«

»Mir geht es genauso. Und gerade ist mir eine Idee gekommen. Ich möchte meine Sammlung jemandem überlassen, der sie zu schätzen weiß. Jemandem, der sich darum kümmern würde. So jemandem wie dir.«

Petja malte sich die Aussicht auf ein ganzes Album voller neuer Briefmarken aus. Sie würden bis in die Zeit zurückreichen, wo der Mann angefangen hatte zu sammeln. Es wäre die Sammlung, die er sich immer erträumt hatte. Es verschlug ihm die Sprache, er konnte sein Glück kaum fassen.

»Und? Würde dich das interessieren?«

»Natürlich. Ich könnte sie in meine Holzkiste räumen, da wären sie sicher.«

Der Mann schien nicht überzeugt, er schüttelte den Kopf. »Aber mein Album ist so voll mit Briefmarken, dass es vielleicht gar nicht in deine kleine Kiste passt.«

»Dann macht mir mein Vater eben noch eine. Der kann das sehr gut, und es würde ihm auch überhaupt nichts ausmachen. Er bastelt gerne Sachen, und er ist sehr geschickt.«

»Und bist du auch sicher, dass du auf die Marken gut aufpassen würdest?«

»Aber ja.«

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

Der Mann lächelte. »Du hast mich überzeugt. Du kannst sie haben. Ich wohne nur drei Haltestellen weiter. Ich kaufe dir eine Fahrkarte.«

Petja wollte schon sagen, dass man keine Fahrkarte brauchte, aber er schluckte die Worte hinunter. Besser nicht zugeben, dass er schon mal schwarzfuhr. Bis er die Briefmarken hatte, musste er bei dem Mann den guten Eindruck wahren.

Petja saß auf der Holzbank der Elektritschka, schaute aus dem Fenster in den Wald und schlenkerte die Beinen, die Füße berühr-ten fast den Boden. Er fragte sich gerade, ob er seine Kopeken überhaupt noch für eine neue Briefmarke ausgeben sollte. Das war doch gar nicht mehr nötig, wo er doch die ganzen anderen Marken bekommen würde. Er beschloss, seinen Eltern das Geld zurückzugeben. Es wäre doch schön, wenn sie an seinem Glück würden teilhaben können.

Der Mann tippte ihm auf die Schulter und unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Wir sind da.«

Die Elektritschka war an einer Haltestelle mitten im Wald stehen geblieben, weit vor der Stadt Schachty. Das war nur eine Ausflugshaltestelle für Leute, die ins Grüne wollten. Es gab nur von Wanderern ausgetretene Pfade durchs Unterholz. Aber jetzt, so kurz nach der Schneeschmelze, war zum Wandern gar nicht die richtige Zeit. Der Wald war kahl und unwirtlich. Pet ja wandte sich seinem Reisegefährten zu. Dessen elegante Schuhe und der Koffer fielen ihm wieder auf. »Hier wohnen Sie?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Hier ist nur meine Datscha. Zu Hause kann ich meine Briefmarken nicht lassen. Ich würde mir viel zu große Sorgen machen, dass meine Kinder sie finden und sie mit ihren schmutzigen Fingern antatschen. Aber jetzt muss ich die Datscha verkaufen, verstehst du? Da weiß ich nicht mehr, wohin mit meiner Sammlung.«

Der Mann stieg aus. Petja folgte ihm und trat auf den Bahnsteig. Sonst war niemand ausgestiegen.

Der Mann ging in den Wald, Petja blieb dichtauf. Dass er eine Datscha hatte, klang glaubhaft. Petja kannte zwar keinen, der reich genug gewesen wäre, sich ein Sommerhäuschen zu halten, aber er wusste, dass solche Datschen oft in Wäldern, an Seen oder am Meer lagen. Während sie weitergingen, fuhr der Mann fort: »Es wäre natürlich schön gewesen, wenn meine Kinder sich für Briefmarken begeistert hätten, aber sie interessieren sich einfach gar nicht dafür.«

Petja überlegte, ob er dem Mann sagen sollte, dass seine Kinder vielleicht einfach nur ein bisschen Zeit brauchten. Er hatte ja auch Zeit gebraucht, bis er ein gewissenhafter Sammler geworden war. Aber er war schlau genug zu erkennen, dass es für ihn von Vorteil war, wenn dessen Kinder sich für die Marken nicht interessierten. Also hielt er den Mund.

Der Mann verließ den Pfad und marschierte ziemlich schnell durch das Unterholz. Petja konnte kaum folgen, so lange Schritte machte der Mann. Petja musste fast laufen.

»Wie heißen Sie eigentlich? Ich würde meinen Eltern gern sagen können, wer der Mann war, der mir die Briefmarken gegeben hat. Nur für den Fall, dass sie mir nicht glauben.«

»Mach dir um deine Eltern keine Gedanken. Ich schreibe ihnen einen Zettel und erkläre ihnen, wie du an das Album gekommen bist. Ich gebe ihnen sogar meine Adresse, falls sie die Geschichte nachprüfen wollen.«

»Vielen Dank.«

»Nenn mich doch Andrej.«

Nach einer Weile blieb der Mann stehen, bückte sich und öffnete seinen Koffer. Petja blieb ebenfalls stehen und schaute sich nach der Datscha um. Er sah aber keine. Vielleicht mussten sie noch ein bisschen weiterlaufen. Während er Atem holte, schaute er hinauf in die kahlen Äste der hohen Bäume, die kreuz und quer in den Himmel ragten.

***

Andrej starrte auf den kleinen Körper hinab. Aus dem Kopf des Jungen lief Blut und rann ihm das Gesicht hinunter. Andrej kniete sich hin, legte einen Finger auf seinen Hals und fühlte nach dem Puls. Der Junge lebte. Sehr gut. Er rollte ihn auf den Rücken und fing an, ihn wie eine Puppe zu entkleiden. Zuerst zog er ihm den Mantel, das Hemd, die Socken und die Schuhe aus, schließlich die Hose und die Unterwäsche. Er sammelte die Kleider in einem Bündel zusammen, nahm seinen Koffer auf und entfernte sich von dem Kind. Nach ungefähr zwanzig Schritten blieb er neben einem umgestürzten Baumstamm stehen. Er ließ die Kleider fallen, ein Häuflein billiger Klamotten. Dann stellte er seinen Koffer ab, öffnete ihn und holte ein langes Stück grobe Schnur heraus. Er ging zurück zu dem Jungen und band ihm ein Ende ans Fußgelenk. Er machte einen festen Knoten und probierte ihn aus, indem er an dem Bein des Jungen zog. Er hielt. Andrej ging zurück und wickelte dabei vorsichtig das Seil auf, so als wolle er eine Zündschnur für eine Packung Dynamit legen. Er kam an dem umgefallenenBaum an, verbarg sich dahinter und legte sich auf den Boden. Er hatte sich eine gute Stelle ausgesucht. Der Stamm lag so, dass Andrej, wenn der Junge erwachte, nicht zu sehen sein würde. Sein Blick folgte der Schnur von seiner Hand aus über den Boden bis hin zu dem Fußgelenk des Jungen. Er hatte immer noch reichlich Schnur in seiner Hand übrig, mindestens noch für fünfzehn Schritt. Er war mit seinen Vorbereitungen fast fertig und so aufgeregt, dass er pinkeln musste. Weil er befürchtete, den Moment zu verpassen, wo der Junge aufwachte, rollte er sich zur Seite, knöpfte sich den Hosenschlitz auf und erleichterte sich im Liegen. Als er fertig war, schob er sich von der feuchten Erde weg, korrigierte noch einmal seine Position und schaute, was der Junge machte. Er war immer noch bewusstlos. Es wurde Zeit für die letzten Vorbereitungen. Andrej nahm seine Brille ab, verstaute sie im Etui und ließ es in seine Jackentasche gleiten. Als er sich wieder umschaute, konnte er die Bäume, die Schnur und das Kind nur noch verschwommen erkennen. Er kniff die Augen zusammen, aber alles, was er sah, waren Umrisse, ein undeutlicher, hautfarbener Klecks, der sich vom Boden abhob. Andrej streckte den Arm aus, knickte von einem nahestehenden Baum einen Zweig ab und fing an, die Rinde abzukauen. Seine Zähne wurden braun und fühlten sich pelzig an.