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Nach dem Krieg war Leo dann von der OMSBON zum eigentlichen NKWD versetzt worden. Es schien ein ganz logischer Schritt zu sein, und Leo hatte ihn nie in Zweifel gezogen. Seine Vorgesetzten hatten seinen Werdegang vorgezeichnet, und er war mit hoch erhobenem Haupt marschiert. Sein Land hätte alles von ihm verlangen können, er wäre zu allem bereit gewesen. Er hätte sogar die Gulags bei Kolyma in der arktischen Tundra kommandiert, wenn man es ihm befohlen hätte. Sein einziger Ehrgeiz war es, seinem Land zu dienen. Einem Land, das den Faschismus bezwungen hatte, in dem Bildung und das Gesundheitswesen umsonst waren, das die Rechte der Arbeiter in der ganzen Welt verkündete, das seinem Vater, einem Fließbandarbeiter in einer Munitionsfabrik, einen Lohn zahlte, der so hoch wie der eines voll ausgebildeten Arztes war. Obwohl seine eigene Tätigkeit im Staatssicherheitsdienst oft unerquicklich war, sah er deren Notwendigkeit vollkommen ein. Die Notwendigkeit, die Revolution vor ihren aus- und inländischen Feinden zu beschützen, vor Leuten, die sie unterminieren und in den Untergang treiben wollten. Dafür würde Leo notfalls sein Leben opfern. Und auch das Leben anderer.

Heute Abend aber spielten weder sein Heldenmut noch seine militärische Ausbildung irgendeine Rolle. Hier ging es um einen Kollegen, einen Freund, einen gramgebeugten Vater. Trotzdem blieb es eine MGB-Operation, und der trauernde Vater war das Ziel. Leo musste behutsam vorgehen. Er durfte sich nicht von denselben Gefühlen beherrschen lassen, die Fjodor irreleiteten. Diese Hysterie brachte eine unbescholtene Familie in Gefahr. Wenn man die Dinge einfach laufen ließ, würde dieses haltlose Mordgeschwätz wuchern wie Unkraut, sich unter den Leuten ausbreiten und sie verunsichern, bis sie womöglich einen der Grundpfeiler der neuen Gesellschaft hinter fragten:

ES GIBT KEINE KRIMINALITÄT.

Nur wenige glaubten hundertprozentig daran. Es gab Schönheitsfehler. Die Gesellschaft befand sich im Übergang, sie war noch nicht perfekt. Eigentlich wurde es von jedem Bürger erwartet, aber als Beamter des MGB war es selbstverständlich Leos Pflicht gewesen, die Werke Lenins zu lesen. Er wusste daher, dass gesellschaftliche Exzesse - also Verbrechen - in dem Maße verdorren würden, wie Armut und Not verschwanden. Da waren sie noch nicht ganz angekommen. Es wurde gestohlen, und Streitereien unter Betrunkenen endeten öfter gewalttätig. Und es gab die Urki, die Verbrecherbanden. Umso wichtiger war es, dass die Leute daran glaubten, dass sie sich zu einem besseren Gemeinwesen hin entwickelten. Wenn hier das Gerücht von Mord aufkam, dann war das ein gewaltiger Rückschlag. Sein Vorgesetzter und Mentor, Generalmajor Janusz Alexejewitsch Kuzmin, hatte Leo von den Gerichtsverfahren des Jahres 1937 erzählt, über deren Angeklagte Stalin folgendes Urteil gefällt hatte:

SIE HABEN DEN GLAUBEN VERLOREN.

Feinde der Partei waren nicht nur Saboteure und Spione, sondern auch jene, die am rechten Weg der Partei zweifelten. Nach dieser Regel war Fjodor, sein Freund und Kollege, tatsächlich ein Feind.

Leos Aufgabe war es, haltlose Spekulationen im Keim zu ersticken und diese Leute vom Abgrund wegzuführen. Mordgerüchte hatten ja durchaus auch eine dramatische Komponente, die manchen Wirrköpfen bestimmt Vergnügen bereitete. Wenn es nicht anders ging, würde er sehr deutlich werden. Der Junge hatte einen Fehler begangen und dafür mit dem Leben bezahlt. Es wäre doch überflüssig, wenn noch jemand unter seiner Unvorsichtigkeit zu leiden hätte. Vielleicht war das ein bisschen dick aufgetragen, so weit musste er hoffentlich nicht gehen. Das konnte man auch taktvoller lösen. Diese Leute hatten die Fassung verloren - mehr nicht. Man musste Geduld mit ihnen haben. Sie konnten keinen klaren Gedanken fassen. Er würde also die Fakten auf den Tisch legen. Drohen würde er ihnen nicht, jedenfalls nicht sofort. Er war gekommen, um ihnen zu helfen. Um den Glauben wiederherzustellen.

Leo klopfte und Andrejew öffnete die Tür. Leo neigte den Kopf. »Mein tiefstes Beileid.«

Fjodor trat zurück und ließ Leo eintreten.

Alle Stühle waren besetzt. Das Zimmer war so bevölkert, als ob man eine Dorfversammlung einberufen hätte. Da waren Alte, Kinder - offenbar hatte sich die ganze Familie versammelt. In einer solch traurigen Atmosphäre konnte man sich leicht vorstellen, wie sich die Gefühle hochschaukelten. Zweifellos hatten sie einander in dem Glauben bestärkt, dass irgendeine geheimnisvolle Macht für den Tod ihres kleinen Jungen verantwortlich war. Vielleicht war es so einfacher, mit dem Verlust fertig zu werden. Vielleicht fühlten sie sich schuldig, weil sie dem Kind nicht beigebracht hatten, sich von den Gleisen fernzuhalten. Einige Gesichter der Umsitzenden kannte Leo. Fjodors Freunde von der Arbeit, denen es plötzlich unangenehm war, hier gesehen zu werden. Sie wussten nicht, was sie machen sollten, vermieden Augenkontakt, und eigentlich wären sie gern gegangen, konnten aber nicht. Leo wandte sich an Fjodor. »Vielleicht wäre es einfacher, wenn wir allein reden könnten.«

»Bitte, Leo, das ist meine Familie. Sie möchte hören, was du zu sagen hast.«

Verstohlen blickte Leo sich um. Etwa zwanzig Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Sie wussten schon, was er sagen würde, und das machte ihn in ihren Augen nicht sympathischer. Sie waren wütend, dass ihr Kleiner gestorben war, und so drückten sie ihren Zorn aus. Leo würde einfach hinnehmen müssen, dass all ihre Wut sich auf ihn richtete.

»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als den Verlust eines Kindes. Ich war schon dein Kollege und Freund, als du und deine Frau die Geburt eures Sohnes gefeiert habt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich euch gratuliert habe. Ich bin selbst erschüttert, jetzt hier stehen und euch mein Beileid aussprechen zu müssen.«

Na gut, vielleicht ein bisschen steif, aber wenigstens ehrlich gemeint. Die Antwort war Schweigen. Sorgsam legte Leo sich seine nächsten Worte zurecht. »Ich habe den Schmerz, ein Kind zu verlieren, selbst noch nicht erfahren. Ich weiß nicht, wie ich dann reagieren würde. Vielleicht brauchte ich auch jemanden, den ich dafür verantwortlich machen könnte, den ich hassen könnte. Aber mit klarem Kopf kann ich euch versichern, dass es keinen Zweifel über die Ursache für Arkadis Tod gibt. Ich habe den Bericht bei mir, und wenn ihr wollt, kann ich ihn euch dalassen. Darüber hinaus hat man mich geschickt, damit ich euch alle Fragen beantworte, die ihr vielleicht habt.«

»Arkadi ist ermordet worden, und wir wollen, dass du uns bei der Untersuchung hilfst. Und wenn du dich nicht selbst darum kümmerst, möchten wir, dass der MGB Druck auf die Staatsanwaltschaft ausübt, dass ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird.«

Leo nickte und bemühte sich weiter um einen versöhnlichen Ton. Die Unterredung hatte den denkbar schlechtesten Anfang genommen. Der Vater war untröstlich, die ganze Situation feindselig. Er verlangte tatsächlich die Eröffnung eines Uglownoje delo, eines Ermittlungsverfahrens, ohne das die Miliz den Fall nicht untersuchen würde. Mit anderen Worten, er verlangte das Unmögliche. Leo starrte die Arbeitskollegen an. Anders als die Unerfahrenen merkten sie, dass das Wort Mord auf jeden hier im Raum ein schlechtes Licht warf.