Der Prozess gegen Warlam Babinitsch hatte zwei Tage gedauert. Der Verteidiger hatte auf Geistesgestörtheit plädiert. Die Verfahrensrichtlinien verlangten, dass die Verteidigung nur mit den Aussagen von der Anklage bestellter Zeugen arbeiten durfte, eigene Zeugen durfte sie nicht aufrufen. Nesterow war kein Anwalt, aber er musste auch keiner sein, um zu verstehen, welch ungeheurer Vorteil der Anklage damit in die Hand gespielt wurde. In Babi-nitschs Fall sollte die Verteidigung die Geistesgestörtheit beweisen, ohne auf einen einzigen Zeugen zurückgreifen zu können, der nicht vorher schon von der Anklage präpariert worden war. Da im Krankenhaus Nr. 379 keine Psychologen beschäftigt waren, hatte die Anklage einen Arzt ohne Fachkenntnisse bestimmt, sein Urteil abzugeben. Der Arzt hatte zu Protokoll gegeben, Warlam Babinitsch kenne den Unterschied zwischen richtig und falsch und wisse auch, dass Mord falsch sei. Die Intelligenz des Angeklagten sei zwar begrenzt, aber ausreichend, um einen Begriff wie Verbrechen zu verstehen, denn immerhin habe er bei seiner Verhaftung ja geäußert: Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.
Der Verteidigung blieb anschließend nichts anderes übrig, als denselben Arzt noch einmal in den Zeugenstand zu rufen, damit er nun die gegenteilige Meinung vertrete. Warlam Babinitsch war schuldig gesprochen worden. Nesterow hatte einen maschinengeschriebenen Brief erhalten, in dem bestätigt wurde, dass der Siebzehnjährige auf Knien gestorben war, getötet durch einen Schuss in den Hinterkopf.
Doktor Tjapkins Fall hatte noch weniger Zeit in Anspruch genommen, kaum einen Tag. Seine Frau hatte ausgesagt, er sei gewalttätig, seine krankhaften Phantasien beschrieben und behauptet, der einzige Grund, warum sie nichts gesagt habe, sei die Furcht um ihr eigenes Leben und das ihrer kleinen Kinder gewesen. Außerdem hatte sie vor dem Richter erklärt, sie habe sich von ihrer Religion losgesagt, dem Judentum. Sie wolle ihre Kinder zu aufrechten Kommunisten erziehen. Als Gegenleistung für diese Aussage hatte man sie nach Schachty umgesiedelt, eine Stadt in der Ukraine, wo sie ihr Leben ohne das Stigma des Verbrechens, das ihr Mann begangen hatte, weiterleben konnte. Und da jenseits von Wualsk niemand von diesem Verbrechen erfahren hatte, hatte sie noch nicht einmal ihren Namen ändern müssen.
Nachdem diese beiden Fälle abgeschlossen waren, hatte das Gericht sich an die 200 Verfahren gegen Männer gemacht, denen antisowjetisches Verhalten vorgeworfen wurde. Die Homosexuellen waren zu schweren Lagerhaftstrafen zwischen 5 und 25 Jahren verurteilt worden. Um die schiere Anzahl der Fälle flüssig bearbeiten zu können, hatte sich der Richter für das Strafmaß ein Bewertungsschema ausgedacht, das die berufliche Vergangenheit der Angeklagten, die Anzahl ihrer Kinder sowie schließlich die Anzahl der perversen sexuellen Kontakte, die sie angeblich gehabt hatten, mit in Betracht zog. Parteimitglied zu sein wurde zum Nachteil der Angeklagten ausgelegt, denn sie hatten die Partei in Verruf gebracht, obwohl sie es hätten besser wissen müssen. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen. Trotz der Gleichförmigkeit der Verhandlungen hatte Nesterow sie von Anfang bis Ende verfolgt, alle 200. Nachdem der letzte Mann verurteilt war, hatte er den Gerichtssaal verlassen, nur um zu erleben, dass die örtlichen Parteikader ihm auf die Schulter klopften. Gut gemacht! Es war fast sicher, dass er innerhalb der nächsten paar Monate eine neue Wohnung bekommen würde, spätestens aber bis zum Endes des Jahres.
In den schlaflosen Nächten nach dem Ende der Prozesse hatte seine Frau ihm erklärt, es sei doch ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis er Leo seine Hilfe zusagen werde, also solle er es doch bitte endlich hinter sich bringen. Hatte er etwa auf ihr Einverständnis gewartet? Ja, vielleicht. Schließlich spielte er nicht nur mit seinem eigenen Leben, sondern auch mit dem seiner Familie. Er tat zwar streng genommen nichts Falsches, indem er Fragen stellte und Erkundigungen einholte, aber er arbeitete auf eigene Faust.
Eigenmächtiges Handeln war immer riskant, denn es bedeutete ja, dass die Strukturen, die der Staat geschaffen hatte, versagt hatten. Dass der Einzelne etwas erreichen konnte, was der Staat nicht konnte. Dennoch war er zuversichtlich, ein paar unauffällige, beiläufige Ermittlungen anstellen zu können, die nicht nach mehr aussehen würden als nach Palaver unter Kollegen. Wenn er feststellte, dass es keine ähnlichen Fälle gab, keine anderen ermordeten Kinder, konnte er sicher sein, dass die grausamen Strafen, die er mit herbeigeführt hatte, angemessen und gerecht gewesen waren. Obwohl er Leo misstraute und ihm die Zweifel, die er gesät hatte, verübelte, gab es nichts daran zu deuteln, dass der Mann eine ganz einfache Frage gestellt hatte. Hatte seine Arbeit einen Sinn oder war sie nur ein Mittel zum Überleben? Es war nichts Schändliches daran, überleben zu wollen, die meisten Leute waren mit nichts anderem beschäftigt. Aber reichte es, im Elend zu leben und nicht einmal mit einem Gefühl des Stolzes belohnt zu werden, nicht einmal durch den Gedanken, einem höheren Ziel gedient zu haben, aufrechterhalten zu werden?
In den letzten zehn Wochen hatte Nesterow auf eigene Faust gehandelt, ohne sich mit Leo zu besprechen oder ihn mit einzubeziehen. Da Leo mit ziemlicher Sicherheit überwacht wurde, war es besser, möglichst wenig Kontakt zu ihm zu haben. Er hatte ihm lediglich eine Notiz zukommen lassen - Ich helfe Ihnen - und ihn darin angewiesen, diese sofort zu vernichten.
Es war nicht einfach, an regionale Kriminalakten heranzukommen. Er hatte Telefongespräche geführt und Briefe geschrieben und in beiden das Thema nur am Rande erwähnt, indem er die Effizienz seiner Abteilung lobte, die beiden Fälle so schnell gelöst zu haben. Vielleicht würde er damit ja ähnliche Prahlereien herauskitzeln. Als die Antworten einzutreffen begannen, hatte er sich gezwungen gesehen, mehrere außerdienstliche Bahnreisen in andere Städte zu unternehmen, sich mit Kollegen zu treffen, mit ihnen zu trinken und dabei die entscheidenden Fälle höchstens in einer halben Minute zu erwähnen, um sich anschließend schnell wieder anderer Dinge zu brüsten. Es war eine außerordentlich ineffiziente Methode, um an Informationen zu kommen. Drei Stunden Besäufnis für vielleicht zwei Minuten brauchbarer Unterhaltung. Nach acht Wochen hatte Nesterow noch kein einziges Verbrechen ausgegraben, das als ungeklärt galt. Das war der Moment gewesen, Leo in sein Büro zu rufen.
Leo hatte das Büro betreten, die Tür geschlossen und sich hingesetzt. Nesterow hatte sicherheitshalber noch einmal in den Flur gespäht, war dann zurückgekehrt, hatte die Bürotür verriegelt und unter seinen Schreibtisch gegriffen. Er hatte eine Karte der Sowjetunion hervorgeholt, sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet und die Ecken mit Büchern beschwert. Dann hatte er sich eine Handvoll Stecknadeln genommen. Zwei Nadeln hatte er bei Wualsk in die Karte gesteckt, zwei Nadeln bei Molotow, zwei bei Wjatka, zwei in Gorki und zwei in Kasan. Die Stecknadeln beschrieben eine Linie von Städten, die der Eisenbahnlinie westwärts in Richtung Moskau folgte. In Moskau selbst war Nesterow nicht gewesen, die Beamten der dortigen Miliz hatte er gemieden aus Furcht, dass sie bei jeder Art von Erkundigung misstrauisch werden würden. Westlich von Moskau hatte Nesterow nur noch wenige Informationen sammeln können, aber immerhin einen möglichen Vorfall in Twer gefunden. Weiter südlich steckte er drei Stecknadeln bei Tula ein, zwei bei Orel und zwei bei Belgorod. Für die Ukraine nahm Nesterow sich wieder die Schachtel mit den Nadeln und schüttete sich mindestens zwanzig in die Hand. Dann machte er weiter: zwei Nadeln in Taganrog, zwei in Saporoschje, drei in Kramatorsk, eine in Kiew. Beim Rückweg aus der Ukraine dann noch fünf Stecknadeln in Taganrog und schließlich sechs Nadeln in Rostow.
Nesterow verstand Leos Reaktion - fassungsloses Schweigen. Ihn selbst hatte das Zusammentragen dieser Informationen in einen ähnlichen Gemütszustand versetzt. Anfangs hatte er noch versucht, die Ähnlichkeiten abzutun: das zerkleinerte Zeug, das man den Kindern in den Mund geschoben hatte, das manche Beamte als Erde bezeichneten, andere als Dreck. Die verstümmelten Körper. Aber die Übereinstimmungen waren einfach zu auffällig. Immer Schnur um die Fußgelenke, alle Leichen nackt, die Kleider auf einem Häuflein etwas weiter weg deponiert. Der Tatort lag immer in einem Wald oder Park, oft in der Nähe eines Bahnhofs. Nie waren es häusliche Verbrechen, und immer waren sie im Freien geschehen. Nicht eine einzige Stadt hatte mit einer anderen kommuniziert, obwohl manche Verbrechen weniger als 50 Kilometer voneinander entfernt geschehen waren. Man war keinerlei Verbindungen nachgegangen, die diese Stecknadeln miteinander in Beziehung hätten setzen können. Man hatte die Morde aufgeklärt, indem man sie Betrunkenen, Dieben oder verurteilten Vergewaltigern in die Schuhe geschoben hatte - unerwünschten Personen, denen man jeden Verdacht hätte anhängen können.