Galinas Stimme war leise, kaum ein Flüstern. »Wie soll ich denn helfen können? Ich weiß doch nichts.«
Raisa hatte eine solche Antwort erwartet, deshalb sagte sie: »Fjodor ist nicht als MGB-Beamter hier. Wir sind eine Gruppe von Vätern und Müttern, alles normale Bürger, die schockiert sind über diese Verbrechen. Ihr Name wird nicht in irgendwelchen Akten auftauchen. Es gibt gar keine Akten. Sie werden uns nie wieder zu sehen oder zu hören bekommen. Wir wollen nur wissen, wie er aussieht. Wie alt ist er? Welche Haarfarbe hat er? Trug er teure oder billige Kleider?«
»Aber der Mann, den ich gesehen habe, hatte gar kein Kind bei sich. Das habe ich doch schon gesagt.«
Fjodor antwortete: »Bitte, Galina, lassen Sie uns einen Moment hinein. Wir sollten nicht im Flur darüber reden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nichts.«
Fjodor wurde ungehalten. Raisa berührte ihn am Arm und brachte ihn zum Schweigen. Sie mussten ruhig bleiben, durften sie nicht nötigen. Hier war Geduld gefragt.
»Das ist schon in Ordnung, Galina. Sie haben also keinen Mann mit einem kleinen Kind gesehen. Fjodor hat erzählt, dass Sie einen Mann mit einer Werkzeugtasche gesehen haben. Stimmt das?«
Sie nickte.
»Können Sie uns den Mann beschreiben?«
»Aber er hatte gar kein Kind dabei.«
»Das haben wir verstanden. Er hatte kein Kind dabei, das haben Sie deutlich erklärt. Er hatte nur eine Werkzeugtasche. Aber wie sah er aus?«
Galina dachte nach. Raisa hielt den Atem an. Sie spürte, dass die Frau kurz davor war umzuschwenken. Sie brauchten ja nichts Schriftliches. Sie brauchten keine unterschriebene Zeugenaussage. Es würde nicht länger als eine halbe Minute dauern.
Plötzlich zerschnitt Fjodor die Stille. »Es ist doch wohl nichts dabei, wenn Sie uns sagen, wie ein Mann mit einer Werkzeugtasche aussah. Niemand kann in Schwierigkeiten kommen, nur weil er einen Eisenbahnarbeiter beschreibt.«
Raisa starrte Fjodor an. Er hatte einen Fehler gemacht. Man konnte sehr wohl in Schwierigkeiten kommen, wenn man einen Eisenbahnarbeiter beschrieb. Man konnte noch für viel weniger in Schwierigkeiten kommen. Die sicherste Verhaltensweise war immer noch, wenn man sich raushielt.
Galina schüttelte den Kopf und trat zurück. »Tut mir leid. Es war dunkel. Ich habe ihn nicht gesehen. Er hatte eine Tasche. Das ist alles, woran ich mich noch erinnern kann.«
Fjodor legte seine Hand an die Tür. »Nein, Galina, bitte ...«
Galina schüttelte den Kopf. »Gehen Sie!«
»Bitte. Ich bitte Sie.«
Wie ein verängstigtes, panisches Tier kreischte sie: »Gehen Sie!«
Plötzlich war es still. Der Lärm der spielenden Kinder hatte aufgehört. Galinas Mann erschien. »Was ist hier los?«
Im Flur öffneten sich Wohnungstüren, Leute starrten heraus, beobachteten, deuteten mit dem Finger und verschreckten Galina nur noch mehr. Raisa merkte, dass ihnen die Situation entglitt, dass sie kurz davor standen, ihre Augenzeugin zu verlieren. Sie trat vor und umarmte Galina, so als wolle sie sich verabschieden. »Wie sah er aus? Flüstern Sie es mir ins Ohr.«
Galinas Mann versuchte sie auseinanderzureißen. »Das reicht.«
Galina wand sich, aber Raisa ließ nicht los, umklammerte den Arm dieser Fremden und flehte sie noch einmal an: »Wie sah er aus?«
Wange an Wange wartete Raisa, schloss die Augen und hoffte. Sie konnte Galinas Atem spüren. Aber Galina antwortete nicht.
Rostow am Don
Am selben Tag
Die Katze hockte auf dem Fenstersims, ihr Schwanz zuckte hierhin und dorthin, und ihre grünen Augen folgten Nadja durch das Zimmer, so als wolle sie gleich zuschlagen, als sei Nadja nichts weiter als eine übergroße Ratte. Die Katze war älter als sie. Nadja selbst war sechs Jahre alt, die Katze acht oder neun. Vielleicht erklärte das ein wenig, warum sie Nadja so von oben herab behandelte. Ihr Vater behauptete, hier in der Gegend gebe es ein Rattenproblem und deshalb müsse man unbedingt Katzen halten. Na schön, zum Teil stimmte das. Nadja hatte schon viele Ratten gesehen, große und auch dreiste. Aber sie hatte noch nie gesehen, dass diese Katze je etwas dagegen unternommen hätte. Sie war ein faules und von ihrem Vater vollkommen verzogenes Biest. Wie konnte eine Katze glauben, sie sei wichtiger als Nadja? Nie ließ sie sich von ihr anfassen. Als Nadja einmal zufällig vorbeigekommen war, hatte sie ihr über den Rücken gestreichelt, worauf die Katze einen Buckel gemacht und gefaucht hatte, um dann wie der Blitz in die Zimmerecke zu springen und das Fell zu sträuben, so als sei das ein Verbrechen. Danach hatte Nadja nicht mehr weiter versucht, sich mit ihr anzufreunden. Wenn die Katze sie unbedingt hassen wollte, würde Nadja sie eben doppelt hassen.
Sie hielt es im Haus nicht mehr aus, wo die Katze sie die ganze Zeit anstarrte. Obwohl es schon spät war und der Rest der Familie in der Küche saß und das Uzin vorbereitete, ging sie nach draußen. Sie wusste, dass man ihr nicht erlauben würde, noch einen Spaziergang zu machen, also fragte sie erst gar nicht, sondern zog nur ihre Schuhe an und schlich sich aus der Vordertür.
Nadja wohnte mit ihrer jüngeren Schwester, ihrer Mutter und ihrem Vater am Ufer des Don, in einem Viertel am Stadtrand mit kaputten Straßen und Backsteinhäuschen. Ein Stück weiter stromaufwärts wurden die Abwässer der Stadt und der Fabriken in den Fluss geleitet, und manchmal saß Nadja da und schaute zu, wie auf der Wasseroberfläche die Ölfilme, Fäkalien und Chemikalien vorbeischwammen. Am Ufer entlang verlief in beide Richtungen ein ausgetretener Pfad. Nadja wandte sich flussabwärts, aufs freie Land hinaus. Es war zwar nicht mehr sehr hell, aber sie kannte den Weg wie ihre Westentasche. Sie hatte einen guten Ortssinn und hatte sich, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie verlaufen, nicht ein einziges Mal. Sie überlegte, was für einen Beruf ein Mädchen mit gutem Orientierungsvermögen später einmal ergreifen konnte. Vielleicht würde sie Kampfpilo-tin werden. Lokführerin brachte nichts, denn die mussten ja gar nicht darüber nachdenken, wo sie hinfuhren, ein Zug konnte sich schließlich nicht verfahren. Ihr Vater hatte ihr Geschichten vom Krieg erzählt, wo es Kampfpilotinnen gegeben hatte. Das hörte sich toll an, so eine wollte sie auch werden. Sie wollte ihr Gesicht auf der Titelseite einer Zeitung sehen und den Lenin-Orden bekommen. Dann würde ihr Vater schon auf sie aufmerksam werden und stolz auf sie sein. Das würde ihn endlich von seiner blöden Katze ablenken.
Sie war eine Weile vor sich hinsummend gelaufen, froh, weg vom dem Haus und der Katze zu sein, da blieb sie plötzlich stehen. Vor sich konnte sie die Umrisse eines Mannes erkennen, der auf sie zukam. Er war groß, aber sonst konnte sie im Dämmerlicht nicht viel erkennen. Er hatte irgendeinen Koffer dabei. Normalerweise hätte der Anblick eines Fremden ihr überhaupt nichts ausgemacht. Warum denn auch? Aber vor kurzem hatte ihre Mutter etwas Seltsames gemacht: Sie hatte sich mit Nadja und ihrer Schwester hingesetzt und sie ermahnt, nicht mit Fremden zu sprechen. Sie war sogar so weit gegangen zu sagen, dass es besser war, unhöflich zu sein, als zu tun, was ein Fremder einem sagte. Nadja blickte sich zum Haus um. So weit weg war sie eigentlich gar nicht. Wenn sie jetzt loslief, konnte sie in weniger als zehn Minuten zurück sein. Bloß wollte sie unbedingt noch zu ihrem Lieblingsbaum, der noch ein Stück weiter flussabwärts stand. Auf den kletterte sie gern, setzte sich hinein und träumte. Solange sie das nicht gemacht hatte, solange sie nicht den Baum erreicht hatte, war ihr Spaziergang in ihren Augen kein Erfolg gewesen. Sie stellte sich vor, dass das ihre militärische Mission war: Wenn sie bis zum Baum kam, war sie erfüllt. Ganz spontan beschloss sie, dass sie nicht mit dem Mann reden würde. Sie würde einfach an ihm vorbeigehen, und wenn er sie ansprach, würde sie einfach »Guten Abend« sagen, aber nicht stehen bleiben.