Unter diesen Umständen hatte Raisa sich vehement dafür ausgesprochen, sich mit Iwan zu treffen. Welche anderen Möglichkeiten hatten sie denn sonst noch, außer mit leeren Händen zurückzufahren? Zögernd hatte Leo zugestimmt. Raisa war es nicht gelungen, Iwan eine Nachricht zukommen zu lassen. Es gab keine Möglichkeit, ihm einen Brief zu schreiben oder ihn anzurufen. So waren sie also ein kalkuliertes Risiko eingegangen in der Hoffnung, dass er da sein würde. Er verließ Moskau nur selten, und nie für lange. Er fuhr nie in Urlaub, und am Landleben lag ihm nichts. Der einzige Grund, der Raisa einfiel, warum er nicht zu Hause sein könnte, war, dass man ihn verhaftet hatte. Was diese Möglichkeit betraf, konnte sie nur hoffen, dass ihm nichts passiert war.
Obwohl sie sich freute, ihn wiederzusehen, gab sie sich keinen Illusionen hin, denn die Begegnung würde unangenehm werden. Sie hatte schließlich Leo bei sich, einen Mann, den Iwan genauso verabscheute wie alle MGB-Beamten. Bei dieser Regel kannte er keine Ausnahmen. Unter denen gab es einfach keine guten. Und doch war es nicht Iwans Abneigung gegen Leo, die sie am meisten beunruhigte. Es war ihre eigene Zuneigung für Iwan. Sie hatte Leo zwar nie in sexueller Hinsicht betrogen, aber davon abgesehen hatte sie ihn mit Iwan in fast jeder anderen Hinsicht betrogen: intellektuell, emotional und auch durch ihre Kritik hinter seinem Rücken. Sie hatte eine Freundschaft mit einem Mann begonnen, der genau das nicht verkörperte, wofür Leo früher gestanden hatte. Es war eigentlich schrecklich, dass sie diese beiden Männer zusammenbrachte. Sie würde versuchen, Iwan so schnell wie möglich zu erklären, dass Leo nicht mehr derselbe war, dass er sich geändert hatte. Dass sein blindes Vertrauen in den Staat erschüttert war. Sie wollte ihm klarmachen, dass sie sich in ihrem Mann getäuscht hatte. Beide sollten einsehen, dass die Unterschiede zwischen ihnen geringer waren, als sie selbst je geglaubt hatten. Aber dafür bestand wenig Hoffnung.
Leo freute sich nicht gerade darauf, Iwan zu treffen. Raisas Seelenverwandten. Er würde mit ansehen müssen, wie es zwischen ihnen funkte, würde sich den Mann anschauen müssen, den Raisa geheiratet hätte, wenn sie die freie Wahl gehabt hätte. Das tat ihm immer noch weh, mehr als sein Statusverlust, mehr als der Verlust seines Vertrauens in den Staat. Er hatte blind auf die Liebe gebaut. Vielleicht hatte er sich an diese Idee geklammert, um ein Gegengewicht zu dem zu bilden, was er bei seiner Arbeit machte. Vielleicht hatte er an die Liebe glauben müssen, um menschlicher zu sein. Das würde auch die extremen Rechtfertigungen erklären, die er sich zurechtgelegt hatte, um ihre kühle Haltung ihm gegenüber zu erklären. Er hatte sich einfach geweigert, an die Möglichkeit zu denken, dass sie ihn hasste. Stattdessen hatte er die Augen verschlossen und sich selbst zu all dem gratuliert, was er hatte. Er hatte seinen Eltern erklärt, dies sei die Frau, von der er immer geträumt habe. Und damit hatte er sogar recht gehabt, denn das war alles, was sie gewesen war - ein Traum, eine Einbildung, und sie war schlau gewesen, durchtrieben genug, das Spiel mitzuspielen, immer in Angst um ihre eigene Sicherheit. Ihre wahren Gefühle hatte sie nur Iwan anvertraut.
Es war schon Monate her, dass diese Phantasie zerschmettert worden war. Aber warum heilten die Wunden dann nicht? Warum konnte er sich nicht einfach davon verabschieden, so wie er sich von seiner Hingabe an den MGB verabschiedet hatte? Weil er die Hingabe an den MGB durch die Hingabe an etwas anderes hatte ersetzen können, den Einsatz für seine Ermittlungen. Aber einen anderen Menschen, den er lieben konnte, hatte er nicht. Es hatte nie einen anderen gegeben. In Wahrheit wollte er einfach nicht die kleine Hoffnung, die verrückte Idee fahren lassen, dass sie ihn eines Tages vielleicht, nur vielleicht, wirklich lieben würde. Obwohl er seinen eigenen Gefühlen nicht mehr so recht traute, seit er sich einmal derart geirrt hatte, fühlte er, dass Raisa und er sich so nah waren, wie sie sich noch nie gewesen waren. Lag das nur daran, dass sie zusammenarbeiteten? Denn sich geküsst oder gar miteinander geschlafen hatten sie nicht mehr. Seit Raisa ihm ihre Version der gemeinsamen Geschichte erzählt hatte, wäre es nicht mehr dasselbe gewesen. Er hatte akzeptieren müssen, dass all ihre vorherigen Intimitäten ihr nichts bedeutet hatten, oder schlimmer noch, ihr unangenehm gewesen waren. Aber Leo wollte nicht hinnehmen, dass nur die Umstände sie zusammengeschweißt hatten - Du hast mich, und ich habe dich. Hatten die Umstände sie denn nicht viel eher voneinander getrennt? Leo war ein Symbol des Staates gewesen, eines Staates, den Raisa verabscheute. Aber jetzt stand er für nichts mehr außer für sich selbst. Er war jeder Autorität beraubt und von dem Staat, den sie so verachtete, ausgespuckt worden.
Sie waren schon fast an der Ladentür, als sie Iwan von der anderen Straßenseite näherkommen sahen. Sie riefen nicht und machten auch sonst nicht auf sich aufmerksam oder traten aus der Warteschlange. Sie beobachteten lediglich, wie er in seinen Wohnblock ging. Raisa wollte schon aus der Schlange der Wartenden treten, als Leo sie am Arm berührte und sie zurückhielt. Immerhin handelte es sich hier um einen Dissidenten. Möglicherweise wurde er überwacht. Plötzlich kam Leo in den Sinn, dass die hohle Münze vielleicht Iwan gehört hatte. Er könnte ein Spion gewesen sein. Was hatte die Münze bei Raisas Sachen zu suchen? Hatte sie sich in Iwans Wohnung ausgezogen und die Münze später aus Versehen mitgenommen? Leo schob den Gedanken beiseite. Er wusste selbst, dass ihn seine Eifersucht zum Narren hielt.
Er blickte sich auf der Straße um, konnte aber keine Agenten ausmachen, die Position um die Wohnung bezogen hätten. Dabei hätte es mehrere Orte gegeben, die sich anboten: das Foyer des Kinos, die Schlange vor dem Lebensmittelgeschäft, uneinsehbare Hauseingänge. Und egal, wie gut ausgebildet Agenten waren, die Observierung eines Gebäudes war immer schwierig, weil sie etwas Unnatürliches an sich hatte. Man war allein, bewegte sich nicht vom Fleck und ging keiner Beschäftigung nach. Nach mehreren Minuten war sich Leo sicher, dass niemand Iwan gefolgt war. Ohne sich groß anzustrengen, einen Grund vorzutäuschen oder so zu tun, als hätten sie ihre Geldbörse vergessen, verließen sie die Schlange genau an der Stelle, wo sie endlich den Laden hätten betreten können. Das war zwar verdächtig, aber Leo setzte darauf, dass die meisten Leute schlau genug waren, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Sie betraten das Haus und gingen die Treppe hinauf. Raisa klopfte an die Tür. Von drinnen hörte man Schritte. Hinter der Tür fragte eine nervöse Stimme: »Ja?«
»Iwan, ich bin’s. Raisa.«
Der Riegel wurde zurückgeschoben. Vorsichtig öffnete Iwan die Tür. Als er Raisa sah, fiel sein Argwohn von ihm ab, und er lächelte. Sie lächelte zurück.
Ein paar Schritte weiter hinten beobachtete Leo im Dämmerlicht des Flurs das Wiedersehen der beiden. Raisa freute sich offensichtlich, ihn zu sehen, sie gingen ganz natürlich miteinander um. Iwan öffnete die Tür, kam heraus und umarmte sie, erleichtert, dass sie noch am Leben war.