»Was genau könnte er tun?«
»Ihr könnt ihm eure Unterlagen vorlesen und die Fotos beschreiben. Vielleicht kann er euch eine klarere Vorstellung von einem Menschen vermitteln, der so etwas machen würde. Sein Alter, seine Verhältnisse, solche Sachen.«
»Wo wohnt er?«
»Er wird sich nicht darauf einlassen, dass ihr ihn in seiner Wohnung aufsucht. Er ist sehr vorsichtig. Wenn überhaupt, dann kommt er hierher. Ich werde mein Bestes tun, ihn zu überzeugen, aber versprechen kann ich nichts.«
Raisa lächelte. »Danke.«
Leo freute sich. Ein Experte war mit Sicherheit besser als irgendwelche Zeitschriftenartikel.
Das Telefon. Dieser Mann hatte ein Telefon! In seiner Wohnung, seiner netten, gut möblierten Wohnung. Leo sah sich die Einrichtung des Zimmers genauer an. Hier stimmte etwas nicht. Das war keine Wohnung, in der eine Familie wohnte. Warum lebte der Mann in so vergleichsweise luxuriösen Verhältnissen? Und wie hatte er es geschafft, seiner Verhaftung zu entgehen? Nach Raisas und Leos Verbannung hätte man ihn doch eigentlich abholen müssen. Schließlich gab es eine MGB-Akte über ihn. Wassili hatte Leo selbst die Fotos gezeigt. Wie war er der Obrigkeit entkommen?
Iwan hatte ein Gespräch angemeldet, jetzt sprach er in den Hörer:
»Professor Zauzayez, hier ist Iwan Sukow. Ich habe eine interessante Aufgabe, für die ich Ihre Hilfe brauche. Am Telefon kann ich nicht darüber sprechen. Hätten Sie zufällig Zeit? Könnten Sie in meine Wohnung kommen? Ja, sofort, wenn das möglich ist.«
Leos Körper spannte sich an. Warum nannte er ihn Professor? Angeblich standen sie sich doch nahe. Warum dann so förmlich, außer es hatte was zu bedeuten? Hier war etwas faul. Mehr als faul.
Leo sprang so heftig auf, dass der Sessel umfiel. Bevor Iwan noch reagieren konnte, war er schon durch das Zimmer, riss das Telefon an sich und schnürte Iwan das Kabel um den Hals. Er stand jetzt hinter Iwan, drückte sich mit dem Rücken an der Wand ab, zog das Kabel straff und schnürte ihm die Luft ab. Iwans Beine rutschten auf dem Parkett aus, er röchelte, brachte keinen Ton mehr heraus. Fassungslos sprang Raisa ebenfalls auf.
»Leo!«
Er hob den Finger und machte ihr Zeichen, still zu sein. Das Kabel immer noch um Iwans Hals, nahm Leo den Hörer ans Ohr.
»Professor Zauzayez?«
Die Leitung wurde unterbrochen. Sie hatten eingehängt. Sie waren unterwegs.
»Leo, lass ihn los!«
Aber Leo zog das Kabel nur noch fester zu. Iwans Gesicht wurde puterrot.
»Er ist ein Agent. Ein Maulwurf. Sieh dir doch nur mal an, wie er lebt. Sieh dir seine Wohnung an. Es gibt gar keinen Professor Zauzayez. Das war sein Kontaktmann bei der Staatssicherheit. Und der ist schon unterwegs, um uns zu verhaften.«
»Leo, du machst einen Fehler. Ich kenne diesen Mann.«
»Er tut nur so, als sei er ein Dissident. Sie haben ihn in den Untergrund eingeschleust, damit er andere Regimegegner auffliegen lassen kann.«
»Leo, du irrst dich.«
»Es gibt keinen Professor. Sie sind schon auf dem Weg hierher. Raisa, wir haben nicht viel Zeit!«
Iwans Finger umklammerten verzweifelt das Kabel, er versuchte sich zu befreien. Raisa schüttelte den Kopf, eilte hinzu und versuchte ihre Finger unter das Kabel zu quetschen, um den Druck auf seine Kehle zu mindern.
»Lass ihn los, Leo. Er kann es uns bestimmt beweisen.«
»Sind nicht alle deine Freunde verhaftet worden? Alle außer ihm? Diese Soja. Was glaubst du wohl, woher der MGB ihren Namen hatte? Sie haben sie nicht wegen ihrer Gebete verhaftet. Das war nur ihr Vorwand.«
Iwan schaffte es nicht, sich zu befreien. Seine Füße glitten auf dem Parkett aus, sodass sein ganzes Gewicht nun auf Leo lastete. Viel länger würde er ihn nicht halten können.
»Raisa, du hast mir nie von deinen Freunden erzählt. Du hast mir nie vertraut. Und wem hast du dich anvertraut? Denk doch mal nach!«
Raisa starrte erst Leo an, dann Iwan. Es stimmte. Alle ihre Freunde waren tot oder verhaftet. Alle außer ihm. Sie schüttelte den Kopf, wollte es nicht glauben. Das war doch nur der typische Verfolgungswahn der heutigen Zeit, eine vom Staat ausgelöste Paranoia, die dazu führte, dass jeder noch so weit hergeholte Verdacht ausreichte, einen Menschen umzubringen. Sie sah, wie Iwan nach der Schrankschublade tastete, und ließ das Kabel los. »Leo, warte!«
»Wir haben keine Zeit.«
»Warte!« Sie zog die Schublade auf und durchwühlte sie. Darinnen lag ein scharf geschliffener Brieföffner. Damit hatte sich Iwan verteidigen wollen. Raisa konnte es ihm nicht verdenken. Dahinter lag ein Buch, sein Exemplar von >Wem die Stunde schlägt<. Warum hatte er es nicht besser versteckt? Sie holte es heraus und fand zwischen den Seiten ein Blatt Papier. Darauf stand eine Liste von Namen: die Namen der Leute, denen er das Buch geliehen hatte. Einige Namen waren durchgestrichen. Auch ihr Name war durchgestrichen. Auf der Rückseite war eine Liste von Leuten, denen er das Buch noch leihen wollte.
Raisa wandte sich zu Iwan um. Mit zitternder Hand hielt sie ihm das Blatt vor die Augen. Konnte es dafür eine harmlose Erklärung geben? Nein, sie wusste bereits, dass es keine gab. Kein Dissident wäre töricht genug gewesen, eine Namensliste zu erstellen. Er hatte das Buch verliehen, um Menschen zu belasten.
Leo hatte Mühe, Iwan festzuhalten. »Raisa, dreh dich weg.« Sie gehorchte und ging in die entgegengesetzte Zimmerecke. Immer noch das Buch in der Hand, hörte sie, wie Iwans Beine gegen die Möbel stießen.
Am selben Tag
Da er ein Agent gewesen war, würde man Iwans Tod sofort als Mord ansehen, als Freveltat, die nur Systemgegner, irgendwelche antisowjetischen Elemente, begehen konnten. Der Schuldige war ein Außenseiter, ein Abtrünniger, und dies bedeutete eine umfassende Fahndungsaktion. Diesmal bestand keine Notwendigkeit, die Sache zu vertuschen. Zum Glück für Leo und Raisa musste Iwan viele Feinde gehabt haben. Er hatte seine Zeit damit verbracht, neugierige Mitbürger zu hintergehen, indem er sie mit dem Versprechen zensierten Materials angelockt hatte, so wie ein Jäger seine Beute mit einem verführerischen Köder anlockte.
Bevor sie die Wohnung verließen, nahm Raisa die Namensliste und stopfte sie in ihre Jackentasche, während Leo in aller Eile ihre Unterlagen zusammenraffte. Sie wussten nicht, wie lange die Staatssicherheit brauchen würde, um auf Iwans Anruf zu reagieren. Sie öffneten die Wohnungstür und hasteten die Treppe hinunter, um dann in scheinbarer Gemächlichkeit wegzugehen. Kaum hatten sie das Ende der Straße erreicht, betraten schon Agenten das Gebäude.
In Moskau hatte man keinen Grund zu vermuten, dass Leo und Raisa zurückgekommen waren. Sie würden nicht die Hauptverdächtigen sein. Falls diese Verbindung überhaupt in Betracht gezogen wurde, würden die mit den Ermittlungen betrauten Beamten sich mit dem MGB in Wualsk in Verbindung setzen und erfahren, dass sie sich auf einem Wanderurlaub befanden. Diese Erklärung würde vielleicht standhalten, es sei denn, jemand hatte einen Mann und eine Frau in das Wohnhaus gehen sehen. Wenn das geschah, würde man sich ihr Alibi genauer ansehen. Aber Leo wusste ohnehin, dass das alles keine wirkliche Rolle spielte. Selbst wenn es keinerlei Indizien gab, selbst wenn sie sich sogar wirklich auf einer Wanderung befunden hätten, konnte man den Mord trotzdem als Grund nehmen, sie zu verhaften. Die Beweislast war dabei vollkommen irrelevant.
In ihrer gegenwärtigen Zwangslage auch noch seine Eltern sehen zu wollen, war geradezu selbstmörderisch. Aber der nächste Zug nach Wualsk würde ohnehin erst um fünf Uhr morgens fahren. Außerdem wusste Leo, und dies war der entscheidende Punkt, dass es seine letzte Gelegenheit sein würde, noch einmal mit ihnen zu sprechen. Zwar hatte man ihm bei seiner Abreise aus Moskau jeden Kontakt mit ihnen untersagt und ihm auch ihren Aufenthaltsort nicht mitgeteilt, aber er hatte sich die Adresse trotzdem schon vor Wochen besorgt. Da er wusste, dass die staatlichen Behörden weitgehend unabhängig voneinander arbeiteten, hatte er eine Chance gesehen, dass eine Anfrage beim Wohnungsamt nicht automatisch beim MGB landen würde. Zur Vorsicht hatte er einen falschen Namen angegeben und versucht, der Anfrage einen offiziellen Anstrich zu geben, indem er eine ganze Reihe von Namen aufgeführt hatte, auch den von Galina Schaporina.