Nesterow stand auf und streckte die Beine aus. Drei Stunden hatte er in der Elektritschka gesessen. Sie war langsam und unbequem, außerdem war er es nicht gewohnt, so lange zu sitzen. Er durchquerte den Fahrgastraum von einem Ende bis zum anderen, machte dann das Fenster auf und sah zu, wie die Lichter der Stadt sich näherten. Nachdem er von dem Mord an einem Jungen namens Petja gehört hatte, der von einem landwirtschaftlichen Kollektiv in der Nähe von Gukowo stammte, war er am Morgen dort hingefahren. Die Eltern des betreffenden Jungen hatte er ohne große Schwierigkeiten gefunden. Er hatte zwar einen falschen Namen genannt, aber wahrheitsgemäß erklärt, dass er in einer ganzen Anzahl ähnlicher Kindermorde ermittelte. Die Eltern des Jungen waren überzeugte Anhänger der Nazi-Theorie und glaub-ten, dass vielleicht sogar ukrainische Verräter den Deutschen geholfen hatten, sich unter die Gesellschaft zu mischen, bevor diese dann willkürlich ihre Morde begonnen hatten. Der Vater zeigte Nesterow Petjas Briefmarkenalbum, das die Eltern in einer Holzkiste unter ihrem Bett aufbewahrten wie einen Schrein zum Gedenken an ihren toten Sohn. Sie konnten die Briefmarken nicht ansehen, ohne in Tränen auszubrechen. Man hatte den Eltern verweigert, ihren Jungen noch einmal zu sehen, aber sie hatten gehört, was man ihm zugefügt hatte. Er war verstümmelt worden wie von einem Tier, und dann hatte man ihm, als wolle man sie zusätzlich quälen, auch noch Dreck in den Mund gestopft. Der Vater hatte im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und wusste, dass man die Nazisoldaten unter Drogen gesetzt hatte, damit sie auch ja ordentlich brutal, unmoralisch und erbarmungslos vorgingen. Er war sich sicher, dass diese Mörder das Produkt irgendeiner Nazidroge waren. Vielleicht hatte man sie auf Kinderblut abgerichtet, ohne das sie nun nicht mehr leben konnten. Warum sonst hätten sie solche Verbrechen begehen sollen? Nesterow fand keine tröstenden Worte für sie. Er konnte ihnen nur versprechen, dass man den oder die Schuldigen fassen werde.
Die Elektritschka erreichte Rostow, und Nesterow stieg aus. Er war sich nun sicher, dass er den Mittelpunkt dieser Verbrechensserie gefunden hatte. Bevor er vor vier Jahren nach Wualsk versetzt worden war, hatte er der Miliz von Rostow angehört, und es fiel ihm nicht schwer, an Informationen zu kommen. Nach seiner letzten Zählung waren 57 Kinder unter seiner Meinung nach vergleichbaren Umständen umgekommen. Ein Großteil der Morde war in ebendieser Oblast begangen worden. War es denn tatsächlich möglich, dass die gesamte Westhälfte des Landes von zurückgelassenen Nazis infiltriert war? Es war ein riesiges Gebiet, das damals von der Wehrmacht besetzt gewesen war. Er hatte selbst in der Ukraine gekämpft und die Vergewaltigungen und Morde der
Armee auf ihrem Rückzug miterlebt. Er beschloss, sich nicht auf die eine oder andere Theorie festzulegen, und wischte die Erklärung damit beiseite. Wenn sie statt Spekulationen über die Identität des Mörders tatsächlich einige handfeste Hinweise finden wollten, dann war dafür entscheidend, was Leo in Moskau herausbekam. Nesterow selbst hatte die Aufgabe übernommen, Fakten über den möglichen Wohnort des Mörders zu sammeln.
Während ihres Urlaubs hielt sich seine Familie in der Wohnung seiner Mutter auf, einem Musterbeispiel jener Neubaugebiete, die im Rahmen der Wohnungsbauprogramme der Nachkriegszeit entstanden waren und eher dazu angetan waren, eine Quote zu erfüllen, als dass tatsächlich Leute darin wohnen konnten. Eigentlich hatten die Gebäude sich schon vor ihrer Fertigstellung in einer Art Verfallszustand befunden. Es gab kein fließendes Wasser und kein Abwassersystem, ganz so wie in seiner eigenen Behausung in Wualsk. Mit Inessa war er übereingekommen, seine Mutter anzulügen und ihr zu sagen, dass sie jetzt eine neue Wohnung hatten. Die Flunkerei hatte seine Mutter derart erfreut, als wohne sogar sie selbst dort. Als Nesterow am Haus seiner Mutter ankam, sah er auf die Uhr. Um sechs Uhr morgens war er abgefahren, und jetzt war es kurz vor neun Uhr abends. Fünfzehn Stunden war er unterwegs gewesen, und an tatsächliche Informationen war er trotzdem nicht herangekommen. Seine Zeit war um. Morgen fuhren sie nach Hause.
Er betrat den Innenhof. Über die gesamte Breite des Hofes hing Wäsche. Er entdeckte auch seine eigenen Sachen darunter und befühlte sie. Sie waren trocken. Nesterow tauchte unter der Wäsche hindurch, ging zur Wohnungstür seiner Mutter und betrat die Küche.
Inessa saß auf einem Holzstuhl. Ihr Gesicht war blutig, die Hände gefesselt. Hinter ihr stand ein Mann, den er nicht kannte. Ohne sich lange damit aufzuhalten, was hier passiert oder wer dieser Kerl war, sprang Nesterow vor, überwältigt von einer mordgierigen Wut. Es war ihm egal, dass der andere eine Uniform anhatte. Nesterow hob die Fäuste. Aber noch bevor er nah genug heran war, spürte er einen heftigen Schmerz auf seiner Hand. Als er sich umdrehte, sah er eine etwa vierzigjährige Frau. In einer Hand hielt sie einen Schlagstock. Er hatte ihr Gesicht schon einmal gesehen - vor zwei Tagen, am Strand. In der anderen Hand hielt sie lässig eine Pistole - sie schien ihre Machtposition zu genießen. Jetzt gab sie dem Beamten ein Zeichen. Er trat vor und warf einen Haufen Papiere auf den Boden. Dort, zu Nesterows Füßen, lag jedes einzelne Dokument, das er in den letzten zwei Monaten zusammengetragen hatte, einschließlich der Fotos, Zeichnungen und Karten. Die gesamte Akte über die ermordeten Kinder.
»General Nesterow, Sie sind verhaftet.«
Wualsk
7. Juli
Leo und Raisa stiegen aus dem Zug und taten so, als hätten sie noch mit ihrem Gepäck zu tun. Sie warteten, bis alle anderen Passagiere in der Bahnhofshalle verschwunden waren. Es war zwar schon spät, aber noch nicht richtig dunkel, und während sie vom Bahnsteig kletterten und in den Wald huschten, hätten sie durchaus entdeckt werden können.
Als sie die Stelle erreicht hatten, wo sie ihre Sachen versteckt hatten, blieb Leo stehen und atmete tief durch. Er starrte in die Baumwipfel und fragte sich, warum er sich entschlossen hatte, den Brief seiner Eltern zu zerstören. Hatte er ihnen damit einen schlechten Dienst erwiesen? Ihm war bewusst, warum sie ihre Gedanken und Gefühle hatten niederschreiben wollen. Sie wollten Frieden mit der Sache schließen. Aber Raisa hatte schon recht gehabt, als sie ihn gefragt hatte: Kannst du nachts besser schlafen, wenn du alles in deinem Kopf ausradierst?
Sie war der Wahrheit näher, als sie ahnen konnte.
Raisa berührte seinen Arm. »Alles in Ordnung?«
Sie hatte gefragt, was in dem Brief stand. Er hatte sie anlügen und ihr erzählen wollen, es sei um seine Familie gegangen - persönliche Einzelheiten, die er vergessen hatte. Aber sie hätte gemerkt, dass er sie belog, also hatte er die Wahrheit gesagt. Dass er den Brief in 100 Schnipsel zerrissen und diese aus dem Fenster geworfen hatte. Er wollte ihn nicht lesen. Seine Eltern sollten gerne glauben, dass ihnen die Last von der Seele genommen war. Zu Leos Erleichterung hatte sie seine Entscheidung nicht hinterfragt und die Angelegenheit seitdem auch nicht mehr erwähnt.