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Die Agenten vor ihm eröffneten das Feuer. Der Bug des Wagens wurde von Kugeln getroffen, die Funken schlagend auf dem Blech auftrafen. Leo duckte sich hinter das Steuer und konnte dadurch die Straße nicht mehr sehen. Doch sein Wagen war in Position, er musste nur noch geradeaus fahren. Weitere Kugeln schlugen durch die Windschutzscheibe. Glassplitter regneten herab. Er war immer noch auf Kurs und stützte sich gegen den Aufprall ab.

Der Wagen kam ins Schlingern. Leo drückte sich in den Sitz und versuchte ihn unter Kontrolle zu halten, aber der Wagen brach nach links aus. Die Reifen waren zerschossen, er war machtlos. Das Auto legte sich auf die Seite, und das Seitenfenster barst. Leo wurde gegen die Tür geschleudert, war nur Zentimeter über der Straße, der Wagen rutschte, Funken stoben. Der Bug schlug in das andere Fahrzeug ein, und Leos Wagen drehte sich um die eigene Achse. Dann rollte er aufs Dach und rutschte von der Straße an den Rinnstein. Leo wurde von der Tür gegen das Dach geschleudert und krümmte sich dort zusammen, bis der Wagen schließlich zum Stillstand kam.

Er öffnete die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er sich rühren konnte, und brachte die Kraft nicht auf, es herauszufinden. Er starrte in den Nachthimmel. Sein Kopf arbeitete langsam. Er merkte, dass er nicht mehr im Wagen lag. Jemand musste ihn herausgezogen haben. Vor ihm tauchte ein Kopf auf, versperrte die Sicht auf die Sterne und schaute auf ihn herab. Leo konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes.

Es war Wassili.

Rostow am Don

Am selben Tag

Aron hatte sich vorgestellt, die Arbeit bei der Miliz sei aufregend. Jedenfalls aufregender, als in einer Kolchose zu arbeiten. Dass sie nicht gut zahlten, hatte er schon vorher gewusst, aber dafür gab es auch keine nennenswerte Konkurrenz. Arbeit zu finden, war nicht gerade seine starke Seite. Nicht, dass irgendwas mit ihm nicht gestimmt hätte, in der Schule war er sogar gut gewesen. Aber er war mit einer »entstellten« Oberlippe auf die Welt gekommen. So hatte ihm das der Arzt jedenfalls erklärt. Sie sei nun mal »entstellt«, da könne er auch nichts machen. Es sah aus, als habe man ein Stück seiner Oberlippe weggeschnitten und die Reste dann zusammengenäht. Deshalb ging die Lippe in der Mitte hoch, so dass seine Schneidezähne zum Vorschein kamen, als würde er die ganze Zeit höhnisch grinsen. Seiner Fähigkeit zu arbeiten tat das natürlich keinen Abbruch, seiner Fähigkeit, Arbeit zu finden, aber durchaus. Da war ihm die Miliz wie die perfekte Lösung vorgekommen, dort lechzte man ja geradezu nach Bewerbern. Sie hatten ihn herumgeschubst und hinter seinem Rücken blöde Bemerkungen gemacht, aber daran war er ja gewöhnt. Und er hatte es ertragen, solange man ihn nur seinen Kopf benutzen ließ.

Und nun saß er hier mitten in der Nacht hinter irgendwelchen Büschen, wurde von Viechern gebissen und beobachtete den Unterstand der Bushaltestelle auf außergewöhnliche Vorkommnisse.

Warum er hier saß oder was mit außergewöhnlichen Vorkommnissen eventuell gemeint sein könnte, hatte man Aron nicht gesagt. Er war einer der Jüngsten im Revier, erst zwanzig, und er fragte sich, ob es sich hierbei vielleicht um eine Art Aufnahmeprüfung handelte, um zu sehen, ob er auch pflichtbewusst war und Befehle befolgte. Gehorsam ging diesen Leuten über alles.

Bislang hatte sich erst eine einzige Person an der Bushaltestelle blicken lassen, ein Mädchen. Sie war noch jung, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, versuchte aber, älter zu wirken. Sie sah betrunken aus. Ihre Bluse war aufgeknöpft. Aron beobachtete, wie sie an ihrem Rock zupfte und in den Haaren spielte. Was machte die denn an der Bushaltestelle? Bis morgen früh fuhren doch gar keine Busse mehr ab.

Ein Mann näherte sich. Er war groß und trug einen Hut sowie einen langen Mantel. Seine Brille hatte Gläser, so dick wie Flaschenböden. Mit seinem Reisekoffer blieb er beim Fahrplan stehen und studierte ihn mit Hilfe seines Zeigefingers. Wie eine spärlich bekleidete Spinne, die am Rande ihres Netzes gewartet hatte, stand das Mädchen sofort auf und näherte sich ihm. Er las weiter den Fahrplan, während sie ihn umkreiste und seinen Koffer, seine Hand und seinen Mantel anfasste. Anfangs schien der Mann die Avancen zu ignorieren, aber dann wandte er den Blick doch vom Fahrplan ab und musterte das Mädchen. Sie sprachen miteinander, aber Aron konnte nicht hören, was sie sagten. Das Mädchen schien mit etwas nicht einverstanden, sie schüttelte den Kopf. Dann zuckte sie mit den Achseln. Sie waren sich einig. Der Mann wandte sich um und schien Aron direkt anzustarren, er blickte geradewegs auf das Gebüsch neben dem Unterstand. Hatte er ihn etwa gesehen? Unwahrscheinlich, schließlich standen sie im Licht und er war im Dunklen. Der Mann und das Mädchen gingen auf ihn zu, genau zu der Stelle, wo er sich versteckte.

Aron war durcheinander und überprüfte noch einmal seine Position. Er hatte sich doch perfekt versteckt, sie konnten ihn unmöglich gesehen haben. Und selbst wenn, warum kamen sie denn dann direkt auf ihn zu? Jetzt waren sie nur noch ein paar Meter weit weg. Er hörte sie reden. Abwartend duckte er sich ins Gebüsch, musste aber feststellen, dass sie schnurstracks an ihm vorbei in den Wald marschierten.

Aron stand auf. »Halt!«

Der Mann erstarrte und krümmte den Rücken. Er wandte sich um. Aron tat sein Bestes, respekteinflößend zu klingen. »Was macht ihr zwei da?«

Das Mädchen, das weder verängstigt noch besorgt schien, antwortete: »Wir gehen spazieren. Was ist denn mit Ihrer Lippe passiert? Die ist ja vielleicht hässlich.«

Aron wurde puterrot vor Scham. Das Mädchen starrte ihn mit offensichtlichem Ekel an. Es verschlug ihm die Worte. Er versuchte sich zu sammeln. »Ihr wolltet miteinander verkehren. An einem öffentlichen Ort. Du bist eine Prostituierte.«

»Nein, wir wollten spazieren gehen.«

Der Mann nickte und fügte mit panisch erstickter Stimme hinzu: »Keiner hat was Böses gemacht. Wir haben uns nur unterhalten.«

»Ich will Ihre Papiere sehen.«

Der Mann trat vor und kramte in der Manteltasche nach seinen Papieren. Das Mädchen hielt sich nonchalant im Hintergrund. Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass man sie angehalten hatte, sie wirkte nicht beunruhigt. Aron sah sich die Papiere des Mannes an. Er hieß Andrej. Die Papiere waren in Ordnung. »Machen Sie den Koffer auf.«

Andrej zögerte, der Schweiß rann ihm in Strömen herab. Man hatte ihn erwischt. Er hatte immer geglaubt, das würde ihm nie passieren. Hatte sich nie vorgestellt, sein Plan könnte schief gehen. Er hob den Koffer hoch und öffnete das Schloss. Der junge Beamte linste hinein und suchte ihn mit einer Hand vorsichtig ab. Andrej hatte den Blick gesenkt und wartete. Als der Milizionär wieder aufschaute, hatte er ein Messer in der Hand. Ein langes Messer mit gezackter Schneide. Andrej war den Tränen nahe.

»Warum haben Sie das dabei?«

»Ich reise viel. Oft esse ich im Zug. Das Messer benutze ich, um die Salami zu schneiden. Billige, harte Salami, aber meine Frau weigert sich, eine andere Sorte zu kaufen.«

Andrej benutzte sein Messer tatsächlich zum Essen. Der Beamte fand eine halbe Salami. Sie war billig und hart. Der Rand war ausgefranst. Sie war mit diesem Messer geschnitten worden.