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Er ging durch den Flur des Kellers, nur ein paar Schritte bis zur Nachbarzelle. Die Tür wurde geöffnet, und Zarubin trat ein. Raisa saß genauso gefesselt da wie ihr Mann. Der Gedanke erregte ihn, dass sie ihn erkennen und begreifen würde, dass es besser gewesen wäre, sein Angebot anzunehmen. Dann wäre sie jetzt in Sicherheit. Offensichtlich war sie doch nicht die Überlebenskünstlerin, für die er sie gehalten hatte. Dabei war sie außergewöhnlich schön. Das hätte sie ausnutzen sollen, anstatt sich für die Treue zu entscheiden. Vielleicht glaubte sie ja an ein Leben nach dem Tode, wo ihre Loyalität belohnt werden würde. Hier allerdings zählte so etwas nicht.

Bestimmt würde ihre Reue ihn stimulieren. Vielleicht flehte sie ihn ja an: Helfen Sie mir!

Jetzt würde sie jede Bedingung akzeptieren, er konnte alles von ihr kriegen. Er konnte sie behandeln wie ein Stück Dreck, sie würde es freudig hinnehmen und noch um mehr betteln. Sie würde sich ihm vollkommen unterwerfen. Er öffnete ein Gitter an der Wand. Es sah so aus, als sei es ein Teil der Belüftungsanlage, aber tatsächlich diente es dazu, sich von Zelle zu Zelle zu verständigen. Zarubin wollte, dass Leo jedes Wort mithörte.

Raisa starrte Zarubin an. Sie sah, wie er ein gespielt trauriges Gesicht aufsetze, mit dem er ihr vermutlich sagen wollte: Hätten Sie doch nur mein Angebot angenommen.

Er stellte seinen Koffer ab und begann sie abzutasten, obwohl sie unverletzt war: »Ich muss Sie überaus gründlich untersuchen. Für den Bericht.«

Raisa hatte sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen. Das Restaurant war umstellt gewesen. Dann waren Agenten eingedrungen und hatten sie verhaftet. Als sie abgeführt worden war, hatte Basarow ihr in seiner typischen Boshaftigkeit hinterhergerufen, sie verdiene jede Strafe, die sie bekomme. Ohne ein Wort der Erklärung hatte man sie gefesselt auf die Ladefläche eines Lasters gesetzt. Sie hatte keine Ahnung, was mit Leo passiert war, bis sie einen Beamten sagen hörte, dass sie ihn hatten. Der Zufriedenheit in seiner Stimme hatte sie entnommen, dass Leo zumindest versucht hatte zu entkommen.

Während die Hand des Arztes über ihren Körper strich, versuchte sie, immer nur starr geradeaus zu blicken, so als sei er gar nicht da. Aber sie schaffte es nicht, ihm nicht doch gelegentlich flüchtige Blicke zuzuwerfen. Seine Knöchel waren behaart, die Fingernägel sauber und sorgfältig geschnitten. Der Wachmann hinter ihr fing an zu lachen, ein kindisches Gegacker. Raisa versuchte sich vorzustellen, dass ihr Körper unantastbar sei und er, egal was er versuchte, nicht Hand an sie legen könne. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Mit entsetzlicher, absichtlicher Bedächtigkeit fuhren seine Finger an der Innenseite ihres Beins hoch. Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und blinzelte sie weg. Zarubin beugte sich näher, sein Gesicht war jetzt ganz dicht an ihrem. Er küsste ihre Wange und sog die Haut in seinen Mund ein, so als wolle er ein Stück abbeißen.

Die Tür ging auf. Wassili kam herein. Der Doktor fuhr hoch, stand auf und trat zurück.

Wassili war ungehalten. »Ihr fehlt nichts. Es besteht kein Grund, dass Sie hier sind.«

»Ich wollte nur sichergehen.«

»Sie können gehen.«

Zarubin nahm sein Köfferchen und ging. Wassili schloss das Gitter. Er hockte sich neben Raisa hin und betrachtete ihre Tränen.

»Sie sind stark. Vielleicht denken Sie, dass Sie es aushalten werden. Ich kann verstehen, dass Sie Ihrem Mann gegenüber loyal bleiben wollen.«

»Tatsächlich?«

»Nein, Sie haben recht, eigentlich kann ich es nicht verstehen. Was ich sagen wollte, ist: Es wäre besser für Sie, wenn Sie mir alles sofort sagen würden. Sie halten mich vielleicht für ein Scheusal. Aber wissen Sie, von wem ich genau diesen Satz habe? Von Ihrem Mann. Das hat er den Leuten immer gesagt, bevor sie zum Foltern abgeführt wurden, einem sogar genau in diesem Raum. Er meinte es sogar ehrlich, falls das eine Rolle spielen sollte.«

Raisa starrte das ebenmäßige Gesicht dieses Mannes an und fragte sich wie schon vor Monaten im Bahnhof, warum er ihr trotzdem so hässlich vorkam. Seine Augen waren dumpf. Nicht leblos oder dumm, aber kalt. »Ich werde Ihnen alles sagen.«

»Aber wird das reichen?«

***

Leo hätte seine Kräfte sparen sollen, bis eine Gelegenheit kam, wirklich etwas zu unternehmen. Jetzt gab es keine. Er hatte schon viele Gefangene ihre Energie damit verschwenden sehen, dass sie mit den Fäusten gegen die Tür schlugen und schrien oder ohne Unterlass in ihren Zellen auf- und abliefen. Damals hatte er sich gefragt, warum sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns nicht einsahen. Jetzt, wo er in derselben Zwickmühle steckte, verstand er, was in ihnen vorgegangen war. Es war, als sei sein Körper allergisch gegen Gefangenschaft. Mit Logik oder kühlem Verstand hatte das gar nichts zu tun. Er konnte einfach nicht dasitzen, abwarten und nichts tun. Stattdessen zerrte er an seinen Fesseln, bis seine Handgelenke anfingen zu bluten. Irgendetwas in ihm glaubte tatsächlich, dass er diese Ketten würde zerreißen können, auch wenn er schon ioo Männer und Frauen gesehen hatte, die man damit gefesselt hatte, und nicht einmal waren sie gerissen. Aber er war befeuert von der Idee einer grandiosen Flucht und dachte nicht daran, dass eine solche Hoffnung mindestens so gefährlich war wie alle Foltern, die sie ihm zufügen konnten.

Wassili kam herein und bedeutete der Wache, vor Leo einen Stuhl aufzustellen. Der Wachmann gehorchte und stellte den Stuhl knapp außer Leos Reichweite. Wassili trat vor, nahm den Stuhl und rückte ihn näher heran. Ihre Knie berührten sich fast. Er starrte Leo an und sah zu, wie der mit aller Kraft an seinen Fesseln zerrte. »Beruhige dich. Deine Frau ist unversehrt. Sie ist nebenan.«

Mit einem Fingerzeig schickte Wassili den Wachmann zum Gitter. Er öffnete es. Wassili rief: »Raisa. Sagen Sie etwas zu Ihrem Mann. Er macht sich Sorgen um Sie.«

Raisas Stimme hörte sich an wie ein schwaches Echo. »Leo?«

Leo sank zurück in den Stuhl und entspannte sich. Bevor er antworten konnte, schlug der Wachmann das Gitter wieder zu. Leo sah Wassili an. »Es gibt keinen Grund, dass ihr sie oder mich foltert. Du weißt selbst, dass ich mich auskenne. Ich weiß, dass es keinen Zweck hat, sich zu widersetzen. Du kannst mich alles fragen. Ich werde antworten.«

»Aber ich weiß doch schon alles. Ich habe die Dokumente gelesen, die du zusammengetragen hast. Ich habe auch mit General Nesterow gesprochen. Er war sehr darauf bedacht, dass seine Kinder nicht in einem Waisenhaus aufwachsen. Raisa hat alle seine Informationen bestätigt. Ich habe nur eine Frage an dich: Warum? Warum hast du das bisschen, das dir noch geblieben war, für dieses Hirngespinst riskiert?«

»Sprichst du von den Morden?«

»Die Morde sind alle aufgeklärt.«

Leo antwortete nichts.

»Das glaubst du nicht, richtig? Meinst du wirklich, dass eine oder mehrere Personen überall im Land ohne irgendeinen Grund willkürlich russische Jungen und Mädchen ermorden?«

»Ich habe mich getäuscht. Ich hatte eine Theorie, aber ich habe mich getäuscht. Ich distanziere mich davon. Ich werde einen Widerrufunterzeichnen und ein Schuldeingeständnis.«

»Dir ist also klar, dass du dich der schlimmsten Form antisowjetischer Agitation schuldig gemacht hast? Das klingt ganz nach westlicher Propaganda, Leo. Und das könnte ich sogar noch nachvollziehen. Wenn du für den Westen arbeitest, dann bist du ein Verräter. Vielleicht haben sie dir ja Geld versprochen oder Macht, die Dinge, die du verloren hattest. Das könnte ich verstehen. Ist das der Fall?«

»Nein.«

»Und genau das beunruhigt mich. Das heißt nämlich, dass du ernsthaft glaubst, diese Morde stünden miteinander in Verbindung und wären nicht das Werk von Perversen, Herumtreibern, Trunkenbolden und unerwünschten Personen. Offen gesagt, das ist verrückt. Ich habe mit dir zusammengearbeitet. Ich habe gesehen, wie methodisch du vorgehst. Und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich dich sogar bewundert. Allerdings nur so lange, bis du wegen deiner Frau den Kopf verloren hast. Als sie mir deshalb von deinen neuen Abenteuern erzählt haben, konnte ich mir gar keinen Reim daraufmachen.«