»Wen meinst du, Leo? Wer ist dein Bruder? Von wem redest du denn?«
»Meine Mutter hat sich dagegen gewehrt, dass sie die Kirchenglocke mitnehmen.«
»Anna? Redest du über Anna?«
»Anna ist nicht meine Mutter.«
Raisa wiegte seinen Kopf und fragte sich, ob er am Ende verrückt geworden war. Sie sah sich im Wagen um. Leos Hilflosigkeit machte ihn zu einer einfachen Beute.
Die meisten Gefangenen waren viel zu verschreckt, um eine Bedrohung darzustellen. Alle außer den fünf Männern, die auf einer hohen Bank im hintersten Winkel saßen. Anders als die anderen Passagiere schienen sie keine Angst zu haben und sich in dieser Umgebung nicht unwohl zu fühlen. Raisa nahm an, dass es sich um echte Kriminelle handelte, die man für Raub oder Diebstahl verurteilt hatte. Für solche Verbrechen gab es viel kürzere Strafen, als die politischen Gefangenen um sie herum zu erwarten hatten, die Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Schriftsteller und Tänzer.
Diese fünf schienen die Regeln dieser neuen Welt viel besser zu verstehen als die Regeln der anderen Welt. Ihre Überlegenheit resultierte nicht nur aus ihrer offensichtlichen Körperkraft. Raisa hatte bemerkt, dass die Wachen ihnen zusätzliche Macht verliehen hatten. Sie redeten mit ihnen wie mit ihresgleichen, und wenn schon nicht wie mit ihresgleichen, so doch zumindest, als seien sie normale Menschen. Die anderen Gefangenen hatten Angst vor ihnen und machten ihnen Platz. Sie konnten ihre Bank verlassen, austreten und ihr Wasser holen, ohne Angst haben zu müssen, ihren Logenplatz zu verlieren, weil niemand es wagte, ihnen den streitig zu machen. Von einem Mann, den sie offensichtlich nicht kannten, hatten sie bereits verlangt, dass er ihnen seine Schuhe gab. Als er gefragt hatte, warum, hatten sie ihn damit beschieden, er habe sie in einer Wette verloren. Raisa war froh gewesen, dass der Mann nicht nachgefragt hatte. Neue Welt, neue Regeln. Er hatte einfach seine Schuhe abgegeben und dafür ein Paar zerfled-derte bekommen.
Der Zug hielt. Aus jedem Waggon erschollen Rufe nach Wasser, die Wachen ignorierten sie, äfften sie nach oder blafften zurück, Wasser! Wasser! Wasser! - als sei die Bitte abwegig. Es schien so, als hätten sich alle Wachen an ihrem Waggon versammelt. Die Tür wurde aufgeschoben und Befehle gebellt, die Gefangenen soll-ten zurücktreten. Dann riefen die Wachen nach den fünf Männern. Wie Urwaldtiere schwangen die sich von ihrer Bank, drängelten sich durch die anderen Gefangenen und verließen den Zug. Irgendetwas stimmte nicht. Raisa senkte den Kopf, ihr Atem ging schneller. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Männer zurückkommen hörte. Sie wartete. Dann hob sie langsam den Kopf und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die Männer zurück in den Waggon kletterten. Alle fünf starrten sie an.
Am selben Tag
Raisa nahm seinen Kopf in die Hände. »Leo?«
Sie hörte, wie sie kamen. Man konnte sich in dem überfüllten Waggon nur bewegen, indem man die auf dem Boden sitzenden Gefangenen beiseite drängte.
»Leo, hör mir zu. Wir sind in Schwierigkeiten.«
Er rührte sich nicht, schien sie nicht einmal zu verstehen. Offenbar merkte er gar nicht, in welcher Gefahr sie schwebten.
»Leo, bitte. Ich flehe dich an.«
Es half nichts. Raisa stand auf und drehte sich den näherkommenden Männern zu. Was konnte sie sonst schon tun? Leo lag nach wie vor zusammengekauert hinter ihr auf dem Boden. Sie nahm sich vor, sich so lange wie möglich zu wehren.
Ihr Anführer, der größte der Männer, trat vor und packte sie am Arm. Raisa hatte damit gerechnet und schlug ihm mit der freien Hand aufs Auge. Ihre ungeschnittenen, schmutzigen Fingernägel kratzten ihm die Haut rund um das Auge auf. Sie hätte ihm das Auge ausreißen sollen, und der Gedanke war ihr auch durchaus gekommen, aber dann konnte sie ihm doch nur eine Fleischwunde verpassen. Der Mann schleuderte sie zu Boden. Sie purzelte auf andere Gefangene, die aus dem Weg krabbelten. Dieser Kampf ging sie nichts an, und sie würden ihr auch nicht helfen. Raisa war auf sich allein gestellt. Sie versuchte, vor ihren Angreifern davonzukriechen, stellte aber fest, dass das nicht ging. Jemand hielt ihr Bein fest. Weitere Hände packten sie, hoben sie hoch und warfen sie auf den Rücken. Einer der Männer ging auf die Knie, hielt ihre Arme fest und drückte sie zu Boden, während der Anführer ihr die Beine auseinandertrat. In der Hand hielt er einen großen, scharfkantigen Metallsplitter, er sah aus wie ein riesiger Zahn.
»Wenn ich dich fertig gefickt habe, dann ficke ich dich hiermit.«
Er deutete auf den Splitter, und Raisa kapierte sofort, dass er ihn gerade erst von den Wachen bekommen hatte. Sie konnte sich nicht rühren und wandte sich zu Leo um.
Er war verschwunden.
Leos Gedanken hatten sich von dem Wald, der Katze, dem Dorf und seinem Bruder abgewandt. Seine Frau war in Gefahr. Mühsam versuchte er, die Situation zu erfassen, und fragte sich, warum auf ihn überhaupt keiner achtete. Vielleicht hatte man den Männern ja erklärt, er sei geistesgestört und ungefährlich. Wie auch immer, er hatte sich aufrappeln können, ohne dass die Männer reagierten. Ihr Anführer knöpfte sich gerade die Hose auf. Bis er merkte, dass Leo vor ihm stand, waren sie nur noch um Armeslänge voneinander entfernt.
Der Anführer grinste höhnisch und schlug ihm ins Gesicht. Leo wehrte den Schlag nicht ab und duckte sich auch nicht, sondern ging einfach zu Boden. Mit aufgeplatzter Lippe lag er auf den Holzplanken und hörte die Männer lachen. Sollten sie nur lachen. Der Schmerz half ihm, sich zu konzentrieren. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher, stark zwar, aber nicht trainiert. Während Leo wieder aufstand, tat er bewusst so, als sei er unsicher auf den Beinen und schwerfällig. Dabei drehte er den Männern den Rücken zu, ein einladendes Ziel. Er hörte, wie jemand auf ihn zukam, einer hatte also den Köder geschluckt. Als er über die Schulter spähte, sah er, wie der Anführer mit dem Metallsplitter nach ihm schlug, um ihn endgültig zu erledigen. Leo machte einen schnellen Ausfallschritt und überrumpelte den Gegner. Bevor der sich von seiner Überraschung erholen konnte, schlug Leo ihm gegen die Kehle und nahm ihm die Luft. Der Mann keuchte. Leo bekam seine Hand zu fassen, entwand ihm den Metallsplitter und schlug ihm die Spitze in den muskulösen Hals. Er schlug noch einmal zu, diesmal trieb er das Metall ganz hinein und durchtrennte dabei sämtliche Sehnen, Venen und Arterien. Er zog seine Waffe heraus, der Mann ging zu Boden und hielt sich die Wunde an seinem Hals.
Das am nächsten stehende Mitglied der Bande kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Leo ließ zu, dass sein neuer Gegner ihm den Hals umklammerte und stieß ihm dann durch sein Hemd das Metall in den Bauch und zog seitwärts durch. Der Mann röchelte, aber Leo zog den Splitter weiter, durchtrennte Haut und Muskeln. Der Verwundete ließ Leos Hals los, stand nur da und starrte auf seinen blutenden Bauch hinab, als sei er darüber verblüfft. Dann brach er zusammen.
Leo wandte sich den übrigen drei Männern zu. Sie hatten jedes Interesse an der Auseinandersetzung verloren. Was auch immer man ihnen angeboten hatte, diesen Kampf war es nicht wert. Vielleicht waren ihnen erheblich bessere Essensrationen oder leichtere Lagerarbeit versprochen worden. Einer der Männer, der dies vielleicht als Chance begriff, innerhalb der Bande aufzusteigen, übernahm das Kommando. Er hob die Hände wie jemand, der gerade beim Kartenspiel verloren hat: »Wir suchen keinen Streit.«
Leo antwortete nicht. Seine Hände waren voller Blut, aus der einen ragte der Metallsplitter hervor. Die Männer zogen sich zurück, ohne sich um den Toten und den Verwundeten zu kümmern. Wer verloren hatte, mit dem hatte man nichts mehr zu schaffen.