Raisa war ungünstig aufgekommen und hatte sich die Seite aufgeschrammt. Orientierungslos und benommen blieb sie einen Moment liegen. Das dauerte zu lange, sie verschwendete Zeit. Ihr Waggon war schon weit weg. Sie konnte den Körper sehen, den Leo hinausgeworfen hatte, und kroch darauf zu, in Fahrtrichtung des Zuges. Sie warfeinen Blick über die Schulter. Bis zum Ende des Zuges waren es nur noch drei Waggons. Aber irgendwelche Haken sah sie nicht. Vielleicht hatte Leo sich geirrt. Jetzt waren es nur noch zwei Waggons, und Raisa hatte die Leiche immer noch nicht erreicht. Sie strauchelte. Nur noch ein Waggon zwischen ihr und dem Ende des Zuges. Erst wenige Meter, bevor der letzte Waggon über sie hinwegrollen würde, sah sie die Haken. Es waren Hunderte, alle an unterschiedlich langen Drähten. Sie waren über die gesamte Breite des Waggons verteilt. Unmöglich, da durchzukommen.
So schnell es ging, rappelte sie sich hoch und erreichte den Körper. Er lag mit ihr zugewandtem Kopf auf dem Bauch. Sie hatte keine Zeit mehr, ihn umzudrehen, also legte sie sich statt-dessen selbst andersherum, wuchtete den Toten zur Seite und zwängte sich darunter. Überall um sich herum sah sie die Drähte, wie Angelschnüre, und an jedem hingen mehrere heimtückisch gezackte Haken. Der Körper über ihr fuhr hoch, als sei er noch lebendig oder eine Marionette, er berührte nicht einmal mehr die Gleise. Raisa blieb ganz flach und reglos zwischen den Schienen liegen. Über sich konnte sie die Sterne sehen. Langsam richtete sie sich auf. Kein Haken hatte sie erwischt. Sie sah dem sich entfernenden Zug hinterher. Sie hatte es geschafft. Aber von Leo keine Spur.
***
Weil er größer war als Raisa, hatte Leo den schwereren der beiden Toten für sich behalten. Vermutlich würde er mehr Körperumfang brauchen, um sich vor den Haken zu schützen. Doch der Mann war so fett, dass er nicht durch die Lücke zwischen den Bohlen passte. Sie hatten ihn schon ausgezogen, um so seinen Umfang zu verringern, aber er war immer noch zu dick. Unmöglich, ihn durch die Lücke zu quetschen. Raisa war mittlerweile schon seit mehreren Minuten draußen. Verzweifelt schob Leo den Kopf durch die Öffnung. Am Ende des Zuges sah er einen mitgeschleiften Körper. Das musste der andere Tote sein. Hoffentlich. Leo musste seinen Plan ändern. Wenn er sich genau richtig hinlegte, dann würde er vielleicht unter dem verhakten Körper hindurchschlüpfen können. Dort, wo er hing, hatte er ja alle Haken eingefangen. Dort musste eigentlich der Weg für Leo frei sein. Er verabschiedete sich von den Mitgefangenen, bedankte sich bei ihnen und ließ sich auf die Gleise fallen.
Er kam zu nahe an den riesigen Stahlrädern auf und rollte sich weg. Dann sah er sich zum Ende des Zuges um. Der in den Drähten hängende Körper kam schnell näher, er hatte sich auf der linken Seite verhakt. Leo legte sich entsprechend hin. Jetzt konnte er nur noch abwarten und sich so klein wie möglich machen. Gleich würde das Ende des Zuges über ihm sein. Er presste sich flach auf den Boden und schloss die Augen.
Der Körper glitt über ihn hinweg. Dann - ein stechender Schmerz. Ein einzelner herumschleudernder Haken hatte ihn am linken Arm erwischt. Leo machte die Augen auf. Der Haken war durch das Hemd gedrungen und hatte sich in sein Fleisch gebohrt. Einen Sekundenbruchteil, bevor der Draht sich straffen und ihn mitschleifen würde, packte er den Haken und zog ihn heraus, wobei er sich ein Stück Haut und Fleisch mit herausriss.
Benommen umklammerte er seinen Arm, aus der Wunde rann Blut. Leo rappelte sich hoch und sah Raisa, die auf ihn zugelaufen kam. Er achtete nicht auf seine Schmerzen und umarmte sie.
Sie waren frei.
Moskau
Am selben Tag
Wassili ging es nicht gut. Er hatte etwas gemacht, was noch nie vorgekommen war - er war nicht zur Arbeit gegangen. Nicht nur war ein solches Verhalten nicht ungefährlich, es entsprach auch überhaupt nicht seinem Naturell. Wenn er schon krank war, dann lieber auf der Arbeit als zu Hause. Es war ihm gelungen, sein häusliches Umfeld so zu arrangieren, dass er die meiste Zeit allein leben konnte. Natürlich war er verheiratet. Es war undenkbar, dass ein Mann Junggeselle blieb, schließlich war Kinder zu bekommen eine gesellschaftliche Pflicht. Wassili hatte sich an die Regeln gehalten und eine Frau geheiratet, die keine eigene Meinung hatte oder sie wenigstens nicht von sich gab. Die hatte ihm auch pflichtgemäß zwei Kinder geboren, was das Mindeste war, wenn man Fragen aus dem Weg gehen wollte. Seine Frau und die Kleinen wohnten in der Familienwohnung am Rande der Stadt, während er selbst im Zentrum seine Dienstadresse hatte. Vordergründig diente das Arrangement dazu, dass er sich mit Geliebten vergnügen konnte, aber tatsächlich leistete er sich nur sehr selten außereheliche Affären.
Nachdem Leo an den Ural verbannt worden war, hatte Wassili darum ersucht, in Leos und Raisas Wohnung ziehen zu dürfen, Nr. 124. Der Wunsch war ihm erfüllt worden. Die ersten Tage hatte Wassili genossen. Er hatte seine Frau losgeschickt, um in den Speztorgi etwas Anständiges zu essen und zu trinken einzukaufen. Dann hatte er in seiner neuen Wohnung ein Fest unter Kollegen abgehalten, ohne Ehefrauen. Seine neuen Untergebenen aßen und tranken und beglückwünschten ihn zu seinem Erfolg. Einige
Männer, die vorher unter Leo gearbeitet hatten, berichteten nun an ihn. Aber trotz dieser erfreulichen Ironie des Schicksals hatte er das Fest nicht genossen. Er fühlte sich leer, weil er niemanden mehr hatte, den er hassen konnte, gegen den er Ränke schmieden konnte. Leos Beförderungen, seine Leistungen und seine Popularität konnten ihn nicht mehr aufregen. Es gab noch andere Männer, mit denen Wassili im Wettstreit lag, aber das war nicht dasselbe.
Er stand aus dem Bett auf und beschloss, sich froh zu trinken. Er goss sich einen ordentlichen Schluck Wodka ein, glotzte dann aber nur das Glas an und schwenkte es hin und her. Er konnte nichts trinken, schon vom Geruch wurde ihm übel. Er stellte das Glas ab.
Leo war tot. Bald schon würde Wassili die offizielle Bestätigung erhalten, dass die beiden Gefangenen ihr Ziel nicht erreicht hatten. Wie so viele waren sie unterwegs gestorben, weil sie in einen Streit über Schuhe oder Klamotten oder Essen oder sonst was geraten waren. Die endgültige Vernichtung eines Mannes, der ihn erniedrigt hatte, dessen schiere Existenz für Wassili eine ständige Peinigung gewesen war. Aber warum vermisste er ihn jetzt?
Es klopfte an der Tür. Er hatte schon damit gerechnet, dass der MGB jemanden vorbeischicken würde, um nachzuprüfen, ob er auch wirklich krank war. Er ging zur Tür und öffnete. Da standen zwei junge Beamte. Der eine sagte: »Melde, dass zwei Gefangene geflohen sind.«
»Leo?« Kaum dass er den Namen ausgesprochen hatte, merkte er, wie der dumpfe Schmerz in ihm nachließ.
Die Beamten nickten. Wassili ging es schlagartig besser.
200 Kilometer südöstlich von Moskau
Am selben Tag
Halb liefen sie, halb marschierten sie, und ständig blickten sie sich um. Ihre jeweilige Geschwindigkeit hing davon ab, ob gerade die Angst oder die Erschöpfung Oberhand gewonnen hatte. Das Wetter war auf ihrer Seite, milder Sonnenschein und eine dünne Wolkendecke, nicht zu heiß, jedenfalls verglichen mit dem Innern des Waggons. Am Stand der Sonne erkannten Leo und Raisa, dass es später Nachmittag sein musste, aber die genaue Zeit wussten sie nicht. Leo konnte nicht sagen, wo oder warum er seine Uhr verloren oder ob man sie ihm vielleicht gestohlen hatte. Er schätzte, dass sie vor den Wachen höchstens vier Stunden Vorsprung hatten. Grob geschätzt betrug ihre Geschwindigkeit acht Kilometer pro Stunde, während der Zug mit kaum mehr als fünfzehn Stundenkilometern unterwegs war - das ergab im Idealfall eine Distanz von etwa 80 Kilometern zwischen ihnen und dem Zug. Es konnte aber auch sein, dass die Wachen ihre Flucht schon viel früher bemerkt hatten.