Jetzt kamen sie aus dem Wald in offenes Gelände. Ohne die Deckung der Bäume waren sie ringsum meilenweit zu sehen, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren, auch wenn sie ungeschützt waren. Am Ende eines Abhangs sahen sie einen kleinen Fluss, änderten die Richtung und beschleunigten ihre Schritte. Es war das erste Gewässer, an dem sie vorbeikamen. Als sie den Fluss erreichten, ließen sie sich auf die Knie fallen und tranken gierig mit den Händen. Als das nicht reichte, tauchten sie die Köpfe ins Wasser. Leo scherzte: »Wenigstens sterben wir sauber.«
Raisa lächelte nicht. Es reichte nicht, dass sie ihr Bestes taten, diesen Mann zu stoppen. Niemand würde ihnen für den Versuch dankbar sein. Sie mussten einfach Erfolg haben.
Raisa besah sich Leos Wunde genauer, die sich nicht schloss und nicht aufhörte zu bluten. Zu viel Fleisch und Haut war weggerissen. Der Hemdfetzen, mit dem sie sie verbunden hatte, war blutdurchtränkt.
Leo schälte ihn ab. »Ich halte es schon aus.«
»Die Wunde hinterlässt eine starke Witterung für die Hunde.«
Raisa stieg aus dem Fluss und ging zum nächsten Baum. Zwischen zwei Ästen hing ein Spinnennetz. Ganz vorsichtig nahm sie es ab, trug es zwischen den Händen und legte es auf das aufgerissene Fleisch an Leos Oberarm. Kaum kam das Blut mit den silbrigen Fäden in Verbindung, schien es zu stocken. Raisa verbrachte mehrere Minuten damit, noch mehr Spinnennetze zu suchen, sie abzunehmen und auf die Verletzung zu legen, bis die Wunde ganz mit seidigen Fäden überzogen war. Als sie fertig war, hatte die Blutung aufgehört.
Leo erklärte: »Wir sollten diesem Fluss so lange wie möglich folgen. Die Bäume bieten die einzige Deckung und das Wasser wird unsere Spur verbergen.«
Das Wasser war flach, am tiefsten Punkt nur knietief. Es floss nicht schnell genug, als dass sie sich darauf hätten flussabwärts treiben lassen können. Stattdessen mussten sie waten. Sie waren hungrig und erschöpft, und Leo wusste, dass sie nicht mehr lange so würden weitermachen können.
Ob die Gefangenen überlebten oder starben, war den Wachen egal, aber Flucht war etwas Unverzeihliches, ein konterrevolutionärer Akt. Flucht verhöhnte nicht nur die Wachmannschaften, sondern das ganze System. Egal, um wen es sich bei den Gefangenen handelte, egal, wie unwichtig sie waren, ihre Flucht machte sie bedeutend. Die Tatsache, dass Leo und Raisa ohnehin schon als großkalibrige Konterrevolutionäre gehandelt wurden, machte aus ihrer Flucht eine Sache von nationaler Bedeutung. Sobald der Zug angehalten war und die Wachen den Toten entdeckt hatten, der in den Drähten hing, waren die Gefangenen bestimmt durchgezählt und der Waggon der Flüchtigen identifiziert worden. Man hatte alle befragt. Falls Antworten ausgeblieben waren, hatte man vielleicht auch ein paar Gefangene erschossen. Leo konnte nur hoffen, dass irgendjemand vernünftig genug gewesen war, sofort die Wahrheit zu sagen. Diese Männer und Frauen hatten schon mehr als genug getan, um ihnen zu helfen. Aber selbst wenn sie alles sagten, war das noch keine Garantie, dass die Wachen nicht an sämtlichen Insassen des Waggons ein Exempel statuieren würden.
Die Jagd würde entlang der Eisenbahngleise beginnen. Sie würden Hunde einsetzen. In jedem Zug gab eine Meute abgerichteter Hunde, die erheblich besser behandelt wurden als die Gefangenen. Wenn der Abstand zwischen der Stelle, wo sie ausgebrochen waren, und dem Punkt, an dem die Suche begonnen hatte, groß genug war, dann würde die Witterung nur schwer aufzunehmen sein. Wenn er bedachte, dass sie nun schon einen dreiviertel Tag auf der Flucht waren, ohne ihre Verfolger zu Gesicht bekommen zu haben, konnte Leo nur annehmen, dass dies der Fall war. Das wiederum bedeutete, dass man Moskau informiert hatte. Die Suche würde ausgeweitet werden. Lastwagen und andere Fahrzeuge würden in Marsch gesetzt und das mögliche Fluchtgebiet in Planquadrate unterteilt werden. Flugzeuge würden den Bereich überfliegen. Die örtlichen Militär- und Sicherheitsstellen würden informiert und ihre Maßnahmen mit denen der nationalen Stellen koordiniert werden. Leo und Raisa würden mit einem Eifer verfolgt werden, der weit über berufliche Pflichterfüllung hinausging. Man würde Belohnungen und Sonderzulagen in Aussicht stellen. Dem Einsatz an Menschen und Maschinen waren keine Grenzen gesetzt. Wenn einer sich damit auskannte, dann Leo - er hatte ja selbst schon mit diesen Menschenjagden zu tun gehabt.
Und genau darin bestand auch ihr einziger Vorteil. Leo wusste, wie der Staat seine Jagden organisierte. Beim NKWD hatte er gelernt, unbemerkt hinter feindlichen Linien zu operieren, und jetzt waren die feindlichen Linien seine eigenen Landesgrenzen. Die Grenzen, für deren Verteidigung er gekämpft hatte. Durch das schiere Ausmaß solcher Suchaktionen waren sie schwerfällig und schlecht zu koordinieren. Sie wurden zentral gelenkt, wodurch sie zwar eine ungeheure Ausdehnung erreichten, die aber gleichzeitig ineffizient war. Und am meisten hoffte Leo, dass sie sich auf die falsche Region konzentrierten. Logisch betrachtet hätten Leo und Raisa sich zur nächsten Grenze aufmachen müssen, in Richtung Finnland. Tatsächlich aber waren sie nach Süden unterwegs, mitten durch Russland bis nach Rostow. In dieser Richtung hatten sie praktisch keine Chance, am Ende frei und in Sicherheit zu sein.
Da sie jetzt durchs Wasser wateten, kamen sie sehr viel langsamer voran, stolperten oft und fielen hin. Jedes Mal fiel es schwerer, wieder aufzustehen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie verfolgt wurden, und die damit verbundene Angst hielt sie noch auf den Beinen. Leo hielt die ganze Zeit den Arm über sich, damit die Spinnennetze nicht weggespült wurden. Bislang hatte keiner von ihnen ihre missliche Lage zur Sprache gebracht, so als würde ihr Leben ohnehin nicht mehr lange genug währen, um noch Pläne zu machen. Leo schätzte, dass sie sich etwa 200 Kilometer östlich von Moskau befanden. Sie waren fast acht Stunden im Zug gewesen. Das ließ vermuten, dass sie irgendwo südlich der Stadt Wladimir waren. Wenn das zutraf, dann bewegten sie sich gerade in Richtung Rjasan. Mit dem Auto oder Zug hätte es bis Rostow schon unter normalen Umständen mindestens 24 Stunden nach Süden gedauert. Aber sie hatten weder Geld noch etwas zu essen, waren verletzt und steckten in schmutzigen Kleidern. Und sie wurden von jedem örtlichen und jedem nationalen Sicherheitsapparat im Land gesucht.
Sie blieben stehen. Vor ihnen durchfloss das Gewässer das Dörfchen eines Bauernkollektivs. Etwa 500 Meter oberhalb der dicht zusammengedrängten Häuser stiegen Leo und Raisa aus dem Wasser. Es war schon spät, die Dämmerung brach herein. Leo sagte: »Ein paar von den Dorfbewohnern arbeiten bestimmt noch auf den Feldern. Wir können uns unbemerkt hineinschleichen und schauen, ob wir etwas zu essen finden.«
»Willst du etwa stehlen?«
»Kaufen können wir nichts. Und wenn sie uns sehen, liefern sie uns aus. Für entflohene Häftlinge sind immer Belohnungen ausgesetzt, viel mehr Geld, als diese Leute im ganzen Jahr verdienen.«
»Leo, du hast zu lange in der Lubjanka gearbeitet. Diese Leute mögen den Staat nicht.«
»Sie brauchen genauso Geld wie alle anderen. Und sie wollen auch am Leben bleiben wie alle anderen.«
»Wir haben noch Hunderte von Kilometern vor uns. Allein schaffen wir das nie. Das musst du doch einsehen. Wir haben keine Freunde, kein Geld, wir haben gar nichts. Uns bleibt nur übrig, Fremde dazu zu überreden, dass sie uns helfen. Wir müssen sie von unserer Sache überzeugen. Anders geht es nicht. Das ist unsere einzige Chance.«