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»Wir sind Verbannte. Wer immer uns aufnimmt, wird erschossen. Und es träfe nicht nur den, der uns geholfen hat, sondern sein ganzes Dorf. Der Staat würde vermutlich nicht mit der Wimper zucken, sie zu 20 oder 25 Jahren zu verurteilen und alle Bewohner in ein Lager im Norden zu deportieren, einschließlich der Kinder.«

»Und genau aus diesem Grund werden sie uns auch helfen. Du hast den Glauben an die Menschen in diesem Land verloren, weil du nur von Leuten umgeben warst, die an der Macht waren. Der Staat kommt in diesen Dörfern nicht vor. Er versteht sie nicht und hat kein Interesse an ihnen.«

»Raisa, das ist das Dissidentengeschwätz aus der Stadt. Es hat nichts mit der Welt da draußen zu tun. Sie müssten verrückt sein, uns zu helfen.«

»Du hast ein ziemlich kurzes Gedächtnis, Leo. Wie sind wir denen gerade erst entkommen? Indem wir den Häftlingen in unserem Waggon die Wahrheit gesagt haben. Sie haben uns geholfen, alle, ein paar hundert. Wahrscheinlich so viele, wie in diesem Dorf leben. Dafür, dass die Gefangenen in unserem Waggon nicht die Wachen alarmiert haben, steht ihnen wahrscheinlich irgendeine Kollektivstrafe bevor. Weshalb haben sie es denn gemacht? Was hast du ihnen geboten?«

Leo schwieg. Raisa kam zur Sache. »Wenn du diese Menschen bestiehlst, dann bist du ihr Feind, obwohl wir doch eigentlich ihre Freunde sind.«

»Du willst also einfach in dieses Dorf hineinmarschieren, so als gehörten wir zur Familie, und hallo sagen?«

»Genauso werden wir es machen.«

Seite an Seite liefen sie zum Dorfplatz wie zwei Leute, die gerade von der Arbeit heimkehrten und hierhin gehörten. Männer, Frauen und Kinder versammelten sich um sie und bildeten einen Kreis. Ihre Häuser waren aus Lehm. Ihre landwirtschaftlichen Geräte waren seit 40 Jahren veraltet. Sie mussten nichts weiter tun, als Leo und Raisa dem Staat auszuliefern, und sie würden reich belohnt werden. Wie konnte man da widerstehen? Diese Leute hatten gar nichts.

Raisa wandte sich an den Kreis feindseliger Gesichter: »Wir sind Verurteilte. Wir sind aus einem Zug entflohen, der uns nach Kolyma bringen sollte. Da sollten wir umkommen. Jetzt werden wir gesucht. Wir brauchen eure Hilfe. Wir bitten nicht für uns selbst. Uns wird man sowieso irgendwann fangen und umbringen. Aber bevor wir sterben, müssen wir eine Aufgabe erfüllen. Bitte lasst mich erklären, warum wir eure Hilfe brauchen. Wenn euch das, was wir zu sagen haben, nicht gefällt, dann solltet ihr euch nicht mit uns abgeben.«

Ein Mann Mitte vierzig trat vor, er schien sich sehr wichtig zu nehmen. »Als Vorsitzender dieser Kolchose ist es meine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass wir am besten daran täten, die beiden auszuliefern.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete Raisa die anderen Dorfbewohner. Hatte sie sich geirrt? Hatte der Staat diese Dörfer infiltriert und in ihre Führung seine Spione und Informanten eingeschmuggelt? Ein Mann meldete sich zu Wort:

»Und was willst du dann mit der Belohnung machen, Pjotr? Willst du die auch dem Staat abliefern?«

Es gab Gelächter. Beschämt errötete der Vorsitzende, und Raisa erkannte erleichtert, dass dieser Mann nur eine Witzfigur war, eine Marionette, die keiner ernst nahm. Aus den hinteren Reihen rief eine Frau: »Gebt ihnen was zu essen.«

Als sei ein Orakel verkündet worden, war die Diskussion vorbei. Sie wurden ins größte Haus geführt. Im Wohnraum wurde Essen zubereitet, und man gab ihnen Schalen mit Wasser. Das Feuer wurde angefacht. Währenddessen stieg die Zahl ihrer Zuhörer, bis das ganze Haus voller Menschen war. Die Kinder hockten sich zwischen die Beine der Erwachsenen und glotzen Leo und Raisa an, als seien sie im Zoo. Aus einem anderen Haus wurde frisches, noch warmes Brot gebracht. Sie aßen vor dem Feuer, ihre nassen Kleider dampften. Als einer der Männer sich entschuldigte, man könne ihnen nichts zum Wechseln anbieten, nickte Leo nur, so verwirrt war er über ihre Großzügigkeit. Alles, was er ihnen zu bieten hatte, war eine Geschichte. Als er das Brot und das Wasser vertilgt hatte, stand er auf.

Raisa beobachtete die Männer, Frauen und Kinder, wie sie Leo zuhörten. Er fing mit dem Mord an Arkadi an, dem kleinen Jungen aus Moskau, den zu vertuschen man ihn gezwungen hatte. Er erzählte, wie er sich schämte, dass er der Familie des Jungen erklärt hatte, es sei ein Unfall gewesen. Dann kam er darauf zu sprechen, warum er aus dem MGB geworfen und nach Wualsk geschickt worden war. Er schilderte seine Verblüffung, als er herausfand, dass noch ein Kind auf beinahe die gleiche Weise umgebracht worden war. Als seine Zuhörer erfuhren, dass landauf, landab solche Morde begangen wurden, verschlug es ihnen den Atem, als habe er ihnen einen Zaubertrick vorgeführt. Nachdem Leo sie vorgewarnt hatte, was er gleich erzählen würde, schickten einige Eltern ihre Kinder hinaus.

Noch bevor er mit seiner Geschichte fertig war, hatten seine Zuhörer angefangen, darüber zu spekulieren, wer wohl dafür verantwortlich sein konnte. Keiner von den Leuten konnte sich vorstellen, dass diese Morde das Werk eines Menschen waren, der Arbeit und eine Familie hatte. Die Männer in der Runde konnten kaum glauben, dass man den Mörder nicht sofort hatte identifizieren können. Sie waren sich allesamt sicher, dass sie das Monster auf den ersten Blick würden erkennen können. Leo sah sich um, und ihm wurde klar, dass die Weltsicht dieser Menschen gerade erschüttert worden war. Er entschuldigte sich dafür, ihnen überhaupt von der Existenz dieses Mörders erzählt zu haben. Dann skizzierte er anhand der Namen größerer Städte den Wirkungskreis des Mannes entlang der Eisenbahnlinien. Das Töten war in sein normales Leben eingebettet, und ein solches normales Leben brachte ihn nicht in Dörfer wie dieses.

Trotz all dieser Beruhigungen fragte sich Raisa, ob die Menschen hier wohl auch weiterhin so vertrauensselig und gastfreundlich sein würden wie bisher. Würden sie noch einmal einem Fremden etwas zu essen geben? Oder würden sie von jetzt an denken, dass jeder Fremde ein dunkles Geheimnis hatte, das sie nicht sehen konnten? Der Preis für ihre Geschichte war die Unschuld ihrer Zuhörer gewesen. Nicht, dass sie nicht auch schon Grausamkeit und Tod miterlebt hätten. Aber dass der Mord an einem Kind jemandem Vergnügen bereiten konnte, hätten sie sich nie vorstellen können.

Draußen war es dunkel geworden. Leo sprach nun schon eine ganze Weile, länger als eine Stunde. Er kam gerade zum Ende seiner Geschichte, als ein Kind ins Haus gerannt kam. »In den Bergen im Norden habe ich Lichter gesehen. Das sind Laster. Sie kommen her.«

Alle sprangen auf. In den Gesichtern um ihn herum las Leo, dass diese Lastwagen nur von einem geschickt worden sein konnten, nämlich dem Staat. Er fragte: »Wie viel Zeit haben wir denn noch?«

Schon allein mit dieser Frage hatte er sich auf ihre Seite gestellt und ein Verhältnis zwischen ihnen vorausgesetzt, das es eigentlich gar nicht gab. Diese Leute konnten sie beide doch ganz einfach ausliefern und ihre Belohnung einfordern. Aber es schien, dass er der Einzige im Raum war, der auf so eine Idee kam. Selbst der Vorsitzende hatte sich der kollektiven Entscheidung unterworfen, ihnen zu helfen.

Einige der Erwachsenen eilten aus dem Haus, möglicherweise, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen. Die anderen fragten den Jungen aus.

»Welcher Berg?«

»Wie viele Laster?«

»Wie lange her?«

Es waren drei Lastwagen, der Junge hatte drei Scheinwerferpaare gesehen, von der Ecke seines Zuhauses. Sie kamen von Norden und waren nur noch wenige Kilometer entfernt. In ein paar Minuten würden sie da sein.

In den Häusern konnte man sich nicht verstecken. Sie enthielten kaum Hausrat, die Möbel waren nicht der Rede wert. Und die Suche würde gründlich sein, sogar brutal gründlich. Wenn es irgendwo ein Versteck gab, dann würden sie es ausfindig machen. Leo wusste, dass der ganze Stolz der Wachmannschaft auf dem Spiel stand. Raisa umfasste seine Arme.