»Wir könnten doch weglaufen. Zuerst müssen sie doch das Dorf durchsuchen. Wenn wir so tun, als wären wir nie dagewesen, kommen wir vielleicht fort und können uns im Gelände verstecken. Es ist dunkel.«
Leo schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. Seine Gedanken wanderten zurück zu Anatoli Brodsky. So musste es für ihn gewesen sein, als er sich umgedreht und auf dem Hügel Leo gesehen hatte, als er erkannt hatte, dass das Netz sich um ihn zusammengezogen hatte. Leo sah es wieder vor sich, wie der Mann da stand und ihn einen Moment lang angestarrt hatte. Er war unfähig gewesen, etwas anderes zu tun als anzuerkennen, dass man ihn gefangen hatte. Damals war Leo schnell gewesen. Aber diesen Mannschaften davonzurennen, war unmöglich. Sie waren ausgeruht und für die Jagd ausgerüstet. Sie hatten Weitschussgewehre, Fernrohre, Leuchtraketen und Spürhunde.
Leo wandte sich an den kleinen Jungen, der die Laster gesehen hatte. »Ich brauche deine Hilfe.«
Am selben Tag
Nervös und mit zitternden Händen kauerte sich der Junge in der fast völligen Finsternis auf die Mitte der Straße und schüttete ein Säckchen Getreide vor sich aus. Er hörte, wie die Laster näher kamen, die Reifen schleuderten Staub auf. Sie waren nur noch ein paar hundert Meter weit weg und kamen schnell näher. Der Junge schloss die Augen und hoffte, dass sie ihn sehen würden. Fuhren sie am Ende vielleicht zu schnell, um überhaupt noch anhalten zu können? Er hörte das Kreischen von Bremsen. Als er die Augen öffnete und sich umwandte, war er von einem hellen Lichtkegel erfasst. Er hob die Arme. Der Laster kam schlingernd zum Stehen, als die Stoßstange fast schon das Gesicht des Jungen berührte. Die Tür der Fahrerkabine wurde geöffnet. Ein Soldat rief heraus: »Was zum Teufel machst du da?«
»Mein Sack ist geplatzt.«
»Verschwinde von der Straße!«
»Mein Vater bringt mich um, wenn ich nicht alles wieder einsammle.«
»Und ich bringe dich um, wenn du nicht sofort deinen Hintern bewegst.«
Der Junge war unschlüssig, was er tun sollte. Er las weiter Getreidekörner auf. Da hörte er ein metallisches Klicken. War das etwa ein Gewehr? Er hatte noch nie ein Gewehr gesehen. Er wusste nicht, wie die sich anhörten. Voller Panik hob er weiter Körner auf und tat sie in den Sack. Sie konnten ihn doch nicht erschießen. Er war doch nur ein Junge, der das Korn seines Vaters auflas. Dann fiel ihm die Geschichte wieder ein, die der Fremde erzählt hatte. Es wurden laufend Kinder umgebracht. Vielleicht waren das dieselben Männer. Er klaubte so viele Körner auf, wie er konnte, nahm das Säckchen und rannte auf das Dorf zu. Die Laster folgten ihm, jagten ihn und ließen die Hupen ertönen, worauf er noch schneller lief. Er hörte, wie die Soldaten lachten. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gelaufen.
Leo und Raisa verbargen sich an dem einzigen Ort, den die Soldaten nicht durchsuchen würden: unter deren eigenen Lastwagen. Während der Junge die Soldaten abgelenkt hatte, war Leo un-ter den zweiten Laster gekrochen, Raisa unter den dritten. Weil sie nicht wussten, wie lange sie sich würden festhalten müssen, vielleicht eine Stunde oder noch länger, hatte Leo sich und ihr die Hände mit Fetzen von seinem Hemd umwickelt, um den Schmerz zu lindern.
Als die Lastwagen anhielten, umklammerte Leo mit den Beinen die Achse.
Auf den Planken hörte er das Getrappel von Füßen, als die Soldaten darüber liefen und hinten absprangen. Er linste über seine Zehen und sah, wie einer der Männer sich bückte und die Schnürsenkel seiner Stiefel zuband. Er brauchte sich nur einmal umzudrehen, dann würde er Leo entdecken und ihn festnehmen. Doch der Soldat richtete sich auf und eilte im Laufschritt auf eines der Häuser zu. Er hatte Leo nicht gesehen. Leo änderte seine Position, damit er den dritten Laster ins Blickfeld bekam.
Raisa hatte Angst, aber vor allem war sie wütend. Zugegeben, der Plan war schlau, und ihr selbst war auch nichts Besseres eingefallen. Aber alles hing davon ab, wie gut man sich festhalten konnte. Sie war keine Elitesoldatin, hatte nicht Jahre damit verbracht, durch Gräben zu robben oder Wälle zu erklimmen. Ihr Oberkörper hatte nicht die Muskulatur, dass das hier funktionieren konnte. Ihr taten jetzt schon die Arme weh, und zwar heftig. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Schmerzen noch eine Minute länger aushalten zu können, geschweige denn eine Stunde. Aber sie konnte auch nicht hinnehmen, dass sie beide nur wegen ihr geschnappt wurden. Nur weil sie nicht genug Kraft hatte. Sollte etwa alles daran scheitern, dass sie zu schwach war?
Sie kämpfte gegen die Schmerzen an und weinte still vor Enttäuschung, dass sie sich nicht mehr festhalten konnte, dass sie sich auf den Boden hinablassen und ihre Arme ausruhen musste. Aber selbst mit einer Pause würde sie nur ein oder zwei Minuten länger durchhalten. Und die Abstände, wie lange sie sich festhalten konnte, würden ganz schnell immer geringer werden, bis sie sich gar nicht mehr festhalten konnte. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Gab es eine Lösung, für die man keine Kraft brauchte? Die Stoffstreifen! Wenn sie sich nicht mehr festhalten konnte, dann würde sie eben ihre Handgelenke an der Achse festbinden. Das würde funktionieren, solange der Wagen nur stehen blieb. Trotzdem musste sie sich erst einmal für einige Minuten auf den Boden ablassen, um sich festzubinden. Und dort, selbst unter dem Laster verborgen, stieg die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass man sie entdeckte. Raisa schaute prüfend nach links und nach rechts und versuchte zu erahnen, wo die Soldaten sich befanden. Der Fahrer war zurückgeblieben, um den Wagen zu bewachen. Sie konnte seine Stiefel sehen und seinen Zigarettenrauch riechen. Eigentlich war seine Anwesenheit ihr sogar recht, denn es bewies, dass sie nicht damit rechneten, dass jemand unter den Laster geklettert sein könnte. Langsam und vorsichtig ließ Raisa sich herab und versuchte, keinen Lärm zu machen. Der kleinste Fehler würde dem Mann ihre Gegenwart verraten. Sie wickelte die Stoffstreifen ab und band ihr rechtes Handgelenk an der Achse fest, dann fing sie mit dem linken an. Den Knoten musste sie mit der bereits festgebundenen Hand machen. Geschafft, die Hände waren fest. Raisa war sehr zufrieden mit sich und wollte gerade ihre Füße unter dem Laster einklemmen, als sie ein Knurren hörte. Sie wandte den Kopf und sah direkt in eine Hundeschnauze.
Leo konnte die Hundemeute sehen, die gerade hinter dem dritten Laster angeleint worden war. Der Milizionär bei ihnen hatte Raisa noch nicht bemerkt. Die Hunde aber sehr wohl, Leo hörte sie knurren - Raisa hing genau in Augenhöhe. Leo konnte nichts unternehmen. Er wandte den Kopf und entdeckte den Jungen, der ihnen auf der Straße geholfen hatte. Gebannt beobachtete er aus dem Innern des Hauses, was da vor sich ging. Leo ließ sich auf den Boden ab, um einen besseren Überblick zu bekommen. Der Hundeführer wollte sich schon wieder entfernen, aber insbesondere ein Hund zerrte an der Leine und in Raisas Richtung. Leo wandte sich zu dem Jungen um. Der würde ihm noch einmal helfen müssen. Er wies mit Blicken auf die Hunde. Der Junge lief aus dem Haus. Leo konnte nur staunen über den Mut des Kleinen, der sich jetzt der Meute näherte. Wie auf Kommando wendeten sich alle Hunde dem Jungen zu und verbellten ihn. Der Soldat brüllte. »Zurück ins Haus!«
Der Junge streckte die Hand aus, als wolle er einen der Hunde streicheln. Der Soldat lachte. »Der beißt dir den Arm ab.«
Der Junge zog die Hand zurück. Der Soldat führte die Hunde weg und befahl ihm noch einmal, wieder ins Haus zu gehen. Leo zog sich wieder hoch und presste sich flach an die Unterseite des Lasters. Sie verdankten dem Kleinen nun schon zum zweiten Mal ihr Leben.