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Raisa wusste nicht, wie lange sie festgebunden unter dem Lastwagen gehangen hatte. Es kam ihr endlos vor. Sie hatte mitgehört, auf welche Art die Soldaten ihre Durchsuchung durchführten. Möbel wurden umgestoßen, Töpfe ausgeschüttet, Sachen zertrümmert. Sie hatte die Hunde bellen gehört und Lichtblitze gesehen, als Leuchtraketen abgefeuert wurden. Jetzt kehrten die Soldaten zu den Lastwagen zurück. Befehle wurden gebrüllt und die Hunde wieder auf die Ladefläche gebracht. Gleich würden sie abfahren.

Aufgeregt erkannte sie, dass der Plan funktioniert hatte. Der Motor wurde angelassen. Die Achse zitterte, in ein paar Sekunden würden sie sich drehen, und Raisa war noch an ihr festgebunden. Sie musste sich irgendwie befreien. Aber ihre Handgelenke waren gefesselt, und die Knoten waren mit den tauben Händen und den gefühllosen Fingern nur schwer zu lösen. Raisa rackerte sich ab. Jetzt stiegen die letzten Soldaten auf den Laster. Die Dorfbewohner hatten sich um die Fahrzeuge versammelt, und Raisa hatte sich immer noch nicht befreit. Gleich würden die Wagen abfahren. Sie krümmte sich und zog mit den Zähnen an dem Knoten. Er löste sich, und mit einem dumpfen Schlag fiel sie auf den Rücken, doch das Geräusch wurde vom Röhren der Motoren übertönt. Der Laster fuhr ab, und sie lag mitten auf der Straße. Im Licht des Dorfes würden die Soldaten auf der Ladefläche sie sehen. Sie konnte nichts dagegen unternehmen.

Da traten die Dorfbewohner vor, scharten sich zusammen und umringten sie direkt hinter dem abfahrenden Wagen. Den zurückblickenden Soldaten fiel nichts Ungewöhnliches auf, denn Raisa war zwischen den Beinen der Leute verschwunden.

Auf der Straße zusammengerollt wartete sie ab. Schließlich hielt ihr ein Mann die Hand hin. Sie war in Sicherheit. Aber Leo war noch nicht da. Er konnte nicht riskieren abzuspringen, bevor die Laster im Dunkeln waren. Der Fahrer des dritten Wagens würde ihn sonst entdecken. Vielleicht wartete er ab, bis sie an eine Kurve kamen. Raisa war unbesorgt, Leo würde schon auf sich aufpassen. Schweigend warteten sie. Raisa nahm die Hand des Jungen, der ihnen geholfen hatte. Und es dauerte nicht lange, da hörten sie die Schritte eines Mannes, der auf sie zugelaufen kam.

Moskau

Am selben Tag

Obwohl mittlerweile viele ioo Soldaten und Agenten nach den Flüchtigen suchten, war Wassili überzeugt, dass keiner von ihnen erfolgreich sein würde. Der Staat hatte zwar fast alle Vorteile auf seiner Seite, aber sie waren hinter einem Mann her, der gelernt hatte, seiner Entdeckung zu entgehen und sich in feindlichem Gebiet zu bewegen. In einigen Abteilungen war man der Überzeugung, dass Leo und Raisa Hilfe von Verrätern in der Wachmannschaft oder von anderen Leuten gehabt haben mussten, die an einem bestimmten Punkt der Bahnstrecke gewartet und den Ausbruch inszeniert hatten. Dem widersprachen allerdings die Geständnisse der Mitgefangenen aus Leos Waggon. Die hatten auch unter brutalen Verhörmethoden beteuert, die beiden seien allein geflohen. Das war nicht, was die Wachen hören wollten, es ließ sie schlecht aussehen. Bislang hatte man die Suche auf mögliche Fluchtrouten hin zur skandinavischen Grenze, der nördlichen Küstenlinie und der Ostsee konzentriert. Man setzte voraus, dass Leo versuchen würde, sich in ein anderes Land durchzuschlagen, vielleicht mit einem Fischerboot. Wenn er erst einmal im Westen war, würde er Kontakt zur dortigen Regierung suchen, die ihm im Austausch für Informationen Hilfe und Zuflucht gewähren würde. Deshalb wurde seiner Ergreifung allerhöchste Dringlichkeit beigemessen. Leo war in der Lage, der Sowjetunion erheblichen Schaden zuzufügen.

Wassili hielt nichts von der Idee, dass man Leo bei seiner Flucht geholfen hatte. Es war schlichtweg unmöglich, dass jemand hätte wissen können, in welchem Zug die Gefangenen sein würden. Ihre Verfrachtung in einen Gulag war in aller Eile, ohne vorherige Planung und auf den letzten Drücker erfolgt. Er selbst hatte sie ohne den notwendigen Papierkram oder ein ordentliches Verfahren durchgepaukt. Der Einzige, der ihnen bei ihrer Flucht hätte helfen können, war er. Und egal, wie verrückt die Idee war, damit bestand zumindest die Möglichkeit, dass man ihm die Schuld in die Schuhe schieben würde. Es sah ganz so aus, dass Leo in der Lage war, ihn am Ende doch noch fertigzumachen.

Bislang hatten die Suchmannschaften von den beiden nicht die geringste Spur gefunden. Weder Leo noch Raisa hatten in dieser Gegend Freunde oder Verwandte, eigentlich hätten sie also auf sich allein gestellt, zerlumpt und mittellos sein müssen. Als er das letzte Mal mit Leo gesprochen hatte, hatte der nicht einmal mehr den eigenen Namen gewusst, aber offenbar war er jetzt wieder bei Sinnen. Wassili musste herausfinden, wo Leo hinwollte. Das war der beste Weg, ihn zu stellen, viel besser, als willkürlich das ganze Land nach ihm abzugrasen. Wassili war es nicht gelungen, seinen Bruder, den er selbst denunziert hatte, wieder einzufangen. Das durfte ihm bei Leo nicht noch einmal passieren. Noch so eine Panne würde er nicht überleben.

Er glaubte nicht daran, dass Leo darauf aus war, in den Westen zu fliehen. Würde er nach Moskau zurückkehren? Immerhin lebten hier seine Eltern. Aber die konnten ihm nicht helfen, und sobald er sich auf ihrer Schwelle blicken ließ, würden sie es mit dem Leben bezahlen. Sie wurden mittlerweile von bewaffneten Beamten überwacht. Vielleicht wollte Leo Rache, vielleicht würde er kommen, um Wassili zu töten. Geschmeichelt verweilte Wassili kurz bei dieser Vorstellung, dann verwarf er sie wieder. Leos Abneigung ihm gegenüber war ihm nie persönlich vorgekommen. Niemals würde er das Leben seiner Frau für einen Racheakt riskieren. Nein, Leo hatte etwas Konkretes vor, und die Hinweise darauf verbargen sich in den Seiten seiner erbeuteten Notizen.

Wassili studierte den Stapel Dokumente, die Leo zusammen mit einem örtlichen Milizoffizier zusammengetragen hatte, den er überredet hatte, ihm zu helfen. Es gab Fotos von ermordeten Kindern und Zeugenaussagen. Es gab Gerichtsakten über verurteilte Verdächtige. Während seines Verhörs hatte Leo sich von seinen Nachforschungen distanziert, aber Wassili wusste, dass das eine Lüge war. Leo war ein Überzeugungstäter, und auch von seiner übergeschnappten Theorie war er überzeugt. Aber wovon eigentlich ganz genau? Dass ein einziger Mörder für all diese sinnlosen Verbrechen verantwortlich war? Morde, deren Tatorte sich über mehrere 1oo Kilometer und über 30 Städte erstreckten? Abgesehen davon, dass diese Theorie schon an sich verrückt war, bedeutete sie, dass Leo überallhin unterwegs sein konnte. Wassili konnte sich kaum einen der Orte aussuchen und dann einfach abwarten. Frustriert nahm er sich noch einmal die Karte vor, auf der jeder der angeblichen Morde markiert und durchnummeriert war.

44. Wassili tippte mit dem Finger auf die Zahl. Er nahm den Telefonhörer.

»Holen Sie mir den Genossen Fjodor Andrejew.«

Seit Wassili befördert worden war, hatte man ihn auch mit einem eigenen Büro belohnt. Es war zugegeben nur ein kleiner Raum, auf den er aber trotzdem immens stolz war, so als hätte er sich jeden Quadratmeter im Kampf erobert. Es klopfte an der Tür. Fjodor Andrejew kam herein, nun einer von Wassilis Mitarbeitern. Ein jüngerer Mann, loyal, arbeitsam und nicht zu helle, mit einem Wort, der perfekte Untergebene. Er war nervös. Wassili lächelte und bot ihm einen Platz an. Fjodor setzte sich.

»Danke, dass Sie gekommen sind. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Natürlich, Genosse.«

»Ist Ihnen bekannt, dass Leo Demidow auf der Flucht ist?«

»Jawohl. Das habe ich gehört.«

»Was wissen Sie über die Hintergründe von Leos Verhaftung?«