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»Nichts.«

»Wir haben geglaubt, dass er für westliche Regierungen arbeitet und Informationen sammelt - also spioniert. Aber es stellt sich heraus, dass das gar nicht stimmt. Wir haben uns geirrt. Leo hat uns im Verhör nichts verraten. Erst jetzt habe ich herausgefunden, an was für einer Sache er dran war.«

Fjodor stand auf und starrte die Unterlagen auf dem Tisch an. Er hatte sie schon einmal gesehen. Da hatten sie an Leos Brust geklebt. Fjodor fing an zu schwitzen. Er beugte sich vor, so als studiere er die Dokumente zum ersten Mal, und versuchte sein Zittern zu unterdrücken. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Wassili aufgestanden war und jetzt neben ihm stand. Er starrte ebenfalls auf die Seiten, so als würden sie gemeinschaftlich an der Sache arbeiten. Wassili fuhr mit dem Finger langsam über die Karte und tippte schließlich auf Moskau. 44.

Fjodor wurde übel. Er wandte den Kopf, nur um festzustellen, dass Wassilis Gesicht ganz nah an seinem war.

»Fjodor, wir wissen, dass Leo kürzlich in Moskau war. Mittlerweile glaube ich, dass er gar nicht spionieren wollte, sondern dass die Reise Teil seiner Nachforschungen war. Verstehen Sie, er glaubt, dass einer der Morde hier passiert ist. Ihr Sohn wurde doch ermordet, oder?«

»Nein. Er kam bei einem Unfall um. Er wurde von einem Zug überfahren.«

»Und man hat damals doch Leo losgeschickt, um sich um die Angelegenheit zu kümmern, oder?«

»Ja, aber ...«

»Und da haben Sie noch geglaubt, ihr Sohn sei ermordet worden, nicht wahr?«

»Ich war eben aufgewühlt. Es war alles sehr schwierig ...«

»Und als Leo nun für seine Nachforschungen zurückkam, da ging es nicht um Ihr Kind?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich verstehe nicht.«

»Woher wissen Sie, was Leo interessierte und was nicht?« Wassili setzte sich wieder hin und betrachtete in gespielter Enttäuschung seine Fingernägel. »Fjodor, Sie haben ganz offensichtlich eine sehr geringe Meinung über mich.«

»Das stimmt nicht, Genosse.«

»Sie müssen eines verstehen: Wenn Leo recht hat, wenn es wirklich einen Kindermörder gibt, dann muss er unbedingt gefasst werden. Ich will Leo helfen, Fjodor. Es ist meine Pflicht als Vater und Offizier, diesen schrecklichen Verbrechen Einhalt zu gebieten. Alle persönlichen Animositäten zwischen Leo und mir stehen dahinter zurück. Wenn ich wollte, dass Leo stirbt, würde ich einfach gar nichts sagen. Im Augenblick hält die ganze Welt ihn und seine Frau für Spione. Sobald man sie entdeckt, werden sie erschossen, und ich fürchte, dann sind ihre gesamten Erkenntnisse verloren. Noch mehr Kinder werden sterben. Wenn ich aber alle Fakten kennen würde, könnte ich vielleicht meine Vorgesetzten überzeugen, die Jagd nach diesem Mann abzublasen. Wenn nicht, was für eine Chance haben Leo und Raisa denn dann schon noch?«

»Keine.«

Wassili nickte, erfreut über diese Bestätigung. Dann stimmte es also. Leo glaubte, dass ein einziger Mann hinter all diesen Todesfällen steckte. Wassili fuhr fort. »Was ich genau meine, ist: Die haben kein Geld, und sie sind Hunderte von Kilometern von ihrem Ziel entfernt.«

»Wo sind sie denn geflüchtet?«

Fjodors zweiter Fehler. Damit zeigte er, dass er ebenfalls glaubte, Leo wolle diesen Mörder fassen. Alles, was Wassili jetzt noch brauchte, war das eigentliche Ziel. Er tippte östlich von Moskau auf die Eisenbahnlinien und beobachtete, wie Fjodors Augen von dort über die Karte nach Süden wanderten. Leo wollte also nach Süden. Aber wohin genau? Er redete Fjodor gut zu. »Die meisten scheinen im Süden passiert zu sein.«

»Na ja, nach der Karte zu urteilen ...«

Fjodor hielt inne. Vielleicht konnte er Wassili einen Hinweis geben, ohne sich selbst zu belasten. Dann könnten sie gemeinsam ihre Vorgesetzten darum bitten, ihre Ansichten über Leo und Raisa zu revidieren. Schon lange hatte Fjodor nach einer Möglichkeit gesucht, ihnen zu helfen. Und da war sie. Er würde sie von Bösewichten in Helden verwandeln. Als sie sich in Moskau getroffen hatten, hatte Leo erwähnt, dass ein Offizier der Miliz nach Rostow gefahren war, um die These zu erhärten, dass dort der Mörder höchstwahrscheinlich lebte. Fjodor tat so, als prüfe er noch einmal die Unterlagen. »Nach der Häufung der Morde zu urteilen, würde ich sagen, es ist Rostow am Don. Die ganzen ersten Morde sind im Süden passiert. Da irgendwo muss er wohnen.«

»In Rostow?«

»Was, glauben Sie, wäre die beste Methode, unsere Vorgesetzten zu überzeugen?«

»Erst muss ich alles verstehen. Wir würden ja ein großes Risiko eingehen, praktisch unseren Kopf in die Schlinge legen. Deshalb müssen wir ganz sichergehen. Erklären Sie mir noch mal, warum Sie glauben, dass dieser Mörder irgendwo im Süden lebt.«

Während Fjodor ganz in die Unterlagen vertieft war und über dies und das redete, stand Wassili auf, trat hinter seinen Schreibtisch, holte seine Pistole hervor und zielte auf Fjodors Herz.

Südöstliche Rostower Oblast

14. Juli

Leo und Raisa steckten in einer Kiste, die höchstens einen Meter breit und zwei Meter lang war. Menschliche Fracht. Schmuggelware auf dem Weg nach Süden. Nach dem Ende der Durchsuchung der Kolchose durch die Miliz hatten die Bewohner Leo und Raisa in einem Lastwagen in die nächstgelegene Stadt gebracht, nach Rjasan. Dort hatte man sie mit Freunden und Verwandten bekannt gemacht. In einer kleinen Wohnung hatten sich mehr als 30 Leute versammelt und die ohnehin schon stickige, heiße Luft mit dem Rauch ihrer billigen Zigaretten verpestet, und Leo hatte von seinen Nachforschungen berichtet. Da war niemand gewesen, den man von der Dringlichkeit des Vorhabens hätte überzeugen müssen oder der sich nicht hätte vorstellen können, dass sich die Miliz in der Verfolgung des Mörders als untauglich erwiesen hatte. Diese Leute hatten sich noch nie wegen Streitigkeiten an die Miliz oder an irgendeine andere Obrigkeit gewandt. Sie hatten sich immer auf sich selbst verlassen. Und hier war es genauso, außer dass es diesmal um das Leben vieler Kinder ging.

Gemeinsam hatten sie darüber beraten, wie man die beiden nach Süden schaffen könnte. Einer der Gäste war Lastwagenfahrer und transportierte Güter zwischen Moskau und Städten wie Samara und Charkow. Charkow lag ungefähr 300 Kilometer nördlich von Rostow, eine halbe Tagesreise mit dem Auto. Sie hatten entschieden, dass es zu riskant war, die beiden nach Rostow zu bringen, weil der Fahrer da offiziell nichts zu tun hatte. Aber in die Nähe von Schachty, das nur kurz vor Rostow lag, war er bereit, sie zu fahren. Da konnte er seinen Umweg leicht damit erklären, dass er Verwandte besuchte. Und ebendiese Verwandten würden, wenn sie erst die Geschichte gehört hatten, bestimmt gern bereit sein, Leo und Raisa zu helfen, in die Stadt zu kommen.

Sie würden mindestens anderthalb Tage in dieser Kiste eingesperrt sein, in völliger Finsternis. Der Fahrer hatte Bananen geladen, Luxusgüter für die Speztorgi. Die Kiste stand im hinteren Teil des Lasters, eingeklemmt zwischen anderen, die alle wertvolle Früchte enthielten. Es war heiß, und die Fahrt war unbequem. Alle zwei oder drei Stunden machte der Fahrer Halt, räumte die Kisten über ihnen beiseite und ließ seine menschliche Fracht die Glieder strecken und sich am Straßenrand erleichtern.

In der Kiste saßen sie sich in völliger Finsternis mit überkreuzten Beinen gegenüber, jeder in seine Ecke. Raisa fragte: »Vertraust du ihm?«

»Wem?«

»Dem Fahrer.«

»Du etwa nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Du hast doch einen Grund, warum du das fragst.«

»Von all den Leuten, die sich die Geschichte angehört haben, war er der Einzige, der keine Fragen hatte. Es schien ihn gar nicht zu jucken. Die anderen waren ganz aufgewühlt, er nicht. Er kommt mir so glatt vor, so pragmatisch und gefühllos.«