Die Umformung der Gesellschaft vollzog sich in weltweitem Umfang. Die Einführung der Transmatreisen hatte den Planeten in ein Dorf verwandelt, und die Menschen dieses Dorfes sprachen die gleiche Sprache: Englisch, und sie dachten die gleichen Gedanken. Kulturell und genetisch tendierten sie zur Vermischung. Wunderliche Lokaltraditionen wurden da und dort als Folklore zur Touristenattraktion erhalten, doch am Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gab es kaum noch Unterschiede zwischen den Bürgern von Karachi, Kairo, Minneapolis, Athen, Addis Abeba, Rangun, Peking, Canberra oder Nowosibirsk. Der Transmat hatte die nationalen Grenzen überwunden und Begriffe wie ›nationale Souveränität‹ zur Sinnlosigkeit werden lassen.
Diese soziale Umwälzung, die zu allgemeiner Muße und Bequemlichkeit geführt hatte, führte zu einer steigenden Nachfrage nach Dienstleistungen. Von Computern gesteuerte Roboter hatten sich als zu aufwendig oder unzulänglich für viele dieser Aufgaben erwiesen. Roboter waren zwar ausgezeichnete Straßenkehrer und Fabrikarbeiter, doch sie waren weniger tauglich als Butler, Babysitter, Köche und Gärtner. Baut bessere Roboter, sagten manche; andere aber träumten von synthetischen Menschen, die diese Bedürfnisse befriedigen sollten. Die technischen Schwierigkeiten schienen nicht unüberwindlich. Die Ektogenese – die künstliche Ernährung von Embryos außerhalb des Mutterleibes, das Ausbrüten von Babys aus gespeicherten Eiern und Sperma – war immer mehr verbessert worden, in der Hauptsache als Bequemlichkeit für Frauen, die das Risiko und die Last einer Schwangerschaft vermeiden wollten. Ektogene, mittelbar aus Mann und Frau geboren, waren zu sehr menschlich, um als Werkzeuge gebraucht zu werden; doch warum nicht einen Schritt weitergehen und Androiden herstellen?
Das hatte Krug getan. Er hatte der Welt den synthetischen Menschen geschenkt, die weitaus anpassungsfähiger waren als Roboter, langlebig, komplex in ihrer Persönlichkeit und ausschließlich abgerichtet zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Sie wurden gekauft, nicht gemietet und durch Gesetzeskraft als Eigentum, nicht als Personen betrachtet. Kurzum, sie waren Sklaven. Manuel dachte manchmal, es wäre vielleicht einfacher gewesen, sich mit Robotern zu begnügen. Roboter waren Dinge, die als Dinge behandelt werden konnten. Androiden hingegen waren so schmerzhaft menschenähnlich, daß es einem schwerfiel, sie als Dinge zu betrachten, und sie selbst mochten vielleicht ihren Status als Industrieprodukte und Sklaven nicht für alle Zeiten unwidersprochen hinnehmen.
Der Wagen glitt durch eine Zuchtkammerhalle nach der anderen, die still, verdunkelt und bis auf wenige Androidenaufseher leer waren. Jeder entstehende Androide verbrachte die ersten beiden Jahre seines Lebens versiegelt in einer solchen Kammer, erklärte Bompensiero, und die Hallen, die sie passierten, enthielten nacheinander Partien im Alter von wenigen Wochen bis zu mehr als zwanzig Monaten. In manchen Hallen waren die Kammern offen; Trupps von Beta-Technikern bereiteten neue Infusionen von Startzygoten vor.
»In dieser Halle«, sagte Bompensiero viele Hallen später, »haben wir eine Gruppe von ausgereiften Androiden, die bereit sind ›geboren‹ zu werden. Wünschen Sie hinunterzusteigen und den Vorgang aus nächster Nähe zu beobachten?«
Manuel nickte.
Bompensiero betätigte einen Hebel. Ihr Wagen rollte ruhig vom Hauptgleis eine Rampe hinunter. Auf dem Boden der Halle stiegen sie aus. Manuel sah einen Schwarm von Gammas, die sich um eine der Zuchtkammern drängten. »Die Nährflüssigkeiten sind aus der Kammer abgelassen worden. Seit etwa zwanzig Minuten atmen die darin befindlichen Androiden zum erstenmal in ihrem Leben Luft. Jetzt werden die Luken der Kammern geöffnet. Hier, kommen Sie näher, Mr. Krug, kommen Sie näher.«
Der Deckel der Kammer wurde abgehoben. Manuel schaute hinein. Er sah ein Dutzend vollausgewachsener Androiden, sechs männliche, sechs weibliche, schlaff auf dem Metallfußboden liegen. Ihre Unterkiefer hingen herab, ihre Augen waren leer, ihre Arme und Beine bewegten sich schwach. Sie erschienen hilflos, ausdruckslos, verwundbar. Lilith, dachte er, Lilith!
Bompensiero flüsterte neben ihm: »In den beiden Jahren zwischen Start und Ablassen der Nährflüssigkeit erreicht der Android volle physische Reife – ein Vorgang, zu dem Menschen dreizehn bis fünfzehn Jahre brauchen. Dies ist eine weitere von Ihrem Vater eingeführte genetische Modifikation im Interesse der Wirtschaft. Wir produzieren keine Androidenkinder, sondern nur Erwachsene, die voll einsatzfähig sind und niemandem zur Last fallen.«
Manuel sagte: »Habe ich nicht irgendwo gehört, daß wir einen Stamm von Androidenbabys züchten, die als Ersatz aufgezogen werden, um menschlichen Frauen, die selbst nicht…«
»Bitte«, zischte Bompensiero. »Kein Wort hierüber…« Er unterbrach sich selbst, als erinnere er sich, wer der Mann war, dem er einen Verweis erteilen wollte, und sagte in einem gemäßigteren Ton: »Ich weiß sehr wenig über das, was Sie da erwähnen. In dieser Fabrik haben wir keine Produktion dieser Art.«
Gammas trugen die zwölf neugeborenen Androiden aus der Zuchtkammer zu Maschinen, die teils wie Rollstühle, teils wie Panzer aussahen. Die Männer waren hager und muskulös, die Frauen hochbrüstig und schlank. Doch die Diskrepanz zwischen ihren ausgewachsenen Körpern und dem infantilen Gesichtsausdruck eines Neugeborenen ließ sie erschreckend häßlich und abstoßend erscheinen. Vollkommen passiv ließen sie alles mit ihren nackten, feuchten Körpern geschehen. Einer nach dem anderen wurde in einen der metallischen Behälter eingeschlossen. Nur ihre ausdruckslosen Gesichter blieben sichtbar hinter transparenten Visieren.
Bompensiero erklärte: »Sie können ihre Muskeln noch nicht gebrauchen. Sie können nicht stehen, nicht gehen, sich nicht bewegen. Diese Trainingsapparate werden ihre Muskelentwicklung stimulieren. Nach einem Aufenthalt von einem Monat in einem solchen Apparat ist ein Android vollkommen Herr seines Körpers. Gehen wir jetzt zu unserem Wagen zurück…«
»Diese Androiden, die ich soeben gesehen habe«, sagte Manuel, »sind natürlich Gammas?«
»Es sind Alphas.«
Manuel war verblüfft. »Sie sahen so… so…«, er zögerte,»… so schwachsinnig aus.«
»Sie sind Neugeborene«, antwortete Bompensiero. »Man kann von ihnen nicht verlangen, daß sie gleich fähig sind, Computer zu bedienen, wenn sie die Zuchtkammer verlassen.«
Sie kehrten zu dem Wagen zurück.
Lilith!
Manuel sah Androiden früherer Serien, die zögernd ihre ersten Schritte machten, lachend stolperten und hinfielen, wieder aufstanden und es beim zweitenmal schon besser konnten. Er besuchte ein Klassenzimmer, in dem die Beherrschung des Stuhlganges das Unterrichtsthema war. Er beobachtete, wie schlafende Betas einer Persönlichkeitsprägung unterzogen wurden: jeder ungeformte Geist wurde seiner Bestimmung entsprechend programmiert. Die Erziehung eines Androiden, erklärte ihm Bompensiero, dauerte ein Jahr für einen Gamma, zwei für einen Beta, vier für einen Alpha. Das Maximum von der Empfängnis bis zum vollen Erwachsensein betrug also sechs Jahre. Er war sich zuvor nie der Schnelligkeit des Prozesses bewußt gewesen. Irgendwie ließen die neuen Erkenntnisse ihm die Androiden jetzt sehr viel weniger menschlich erscheinen. Der höfliche und gleichzeitig Autorität ausstrahlende Thor Watchman war etwa neun oder zehn Jahre, berechnete Manuel, und die liebliche Lilith Meson… wie alt war sie? Sieben? Acht?