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Manuel hatte plötzlich den dringenden Wunsch, diesem Ort zu entfliehen.

»Wir haben eine Gruppe von Betas, die im Begriff sind, die Fabrik zu verlassen«, sagte Bompensiero. »Sie werden heute ihrer letzten Prüfung unterzogen: Tests in sprachlicher Genauigkeit, Koordination, motorischer Reaktion, automatischer Anpassung und mehreren anderen Fähigkeiten. Wenn Sie daran interessiert sind, der Inspektion auch selbst beizuwohnen und persönlich…«

»Nein«, sagte Manuel. »Es war faszinierend. Doch ich habe schon zuviel von ihrer Zeit in Anspruch genommen, und ich habe anderswo eine Verabredung, also muß ich…«

Bompensiero schien nicht betrübt darüber, ihn loszuwerden. »Wie Sie wünschen«, sagte er verbindlich. »Aber natürlich stehen wir zu Ihrer Verfügung, wann immer Sie uns besuchen wollen und…«

»Wo ist die Transmatkabine?«

* * *

22.41 Uhr, Stockholm. Westwärts nach Europa springend, verlor Manuel den Rest des Tages. Eine dunkle, eisige Nacht war hier hereingebrochen; die Sterne funkelten und eine steife Brise kräuselte das Wasser des Malarsees. Um jede Möglichkeit, verfolgt zu werden, zu vermeiden, war er in der Halle des alten Grand Hotel in die öffentliche Transmatkabine umgestiegen. Fröstelnd eilte er durch die herbstliche Dunkelheit zu einer Kabine nicht weit von der grauen Masse der Oper, drückte mit dem Daumen die Zahltaste, kaufte sich einen Sprung nach dem Ostseeufer von Stockholm und gelangte in den altehrwürdigen Wohnbezirk von Östermalm. Hier war jetzt das Androidenviertel. Er lief den Birger Jarlsgaten hinunter zu dem einstmals prächtigen Apartmenthaus, in dem Lilith wohnte. Vor dem Gebäude blieb er stehen, blickte sich vorsichtig um, sah, daß die Straßen leer waren und ging hinein. In der Halle musterte ihn ein Roboter und fragte ihn mit leiser Stimme nach seinem Begehr. »Ich möchte die Alpha Lilith Meson besuchen«, sagte Manuel. Der Roboter erhob keinen Einwand. Manuel hatte die Wahl, mit dem Lift oder über die Treppe zu ihrer Wohnung zu gelangen. Er benutzte die Treppe. Muffige Gerüche verfolgten ihn, und Schatten eilten an ihm vorbei auf seinem Weg zum fünften Stock.

Lilith begrüßte ihn in einem prächtigen, enganliegenden, bis zum Boden reichenden Hochspektrum-Gewand. Da der Stoff nicht mehr war als ein monomolekularer Film, ließ er die Konturen ihres Körpers so gut wie unverhüllt. Sie eilte ihm mit ausgestreckten Armen, geöffneten Lippen und bebenden Brüsten entgegen. »Manuel«, flüsterte sie. Er griff nach ihr.

Er sah sie als ein Stück Materie in einem Bottich schwimmen.

Er sah sie als eine Masse sich vermehrender Nukleotiden.

Er sah sie nackt und naß und mit ausdruckslosem Gesicht in ihrer Zuchtkammer liegen.

Er sah sie als Ding, fabriziert von Menschen.

Ein Ding. Ein Ding. Ein Ding.

Lilith.

Er kannte sie seit fünf Monaten. Seit drei Monaten war sie seine Geliebte. Thor Watchman hatte sie miteinander bekannt gemacht. Sie arbeitete in Krugs Stab.

Ihr Körper preßte sich gegen den seinen. Er legte eine Hand auf eine ihrer Brüste. Sie fühlte sich warm und wirklich und fest an durch das monomolekulare Gewand. Er streichelte mit dem Daumen die Brustwarze, und diese wurde sofort hart vor Erregung. Sie war wirklich, sie war lebendig.

Und dennoch ein Ding?

Er küßte sie. Seine Zunge glitt zwischen ihre Lippen. Er schmeckte Chemikalien: Adenin, Guanin, Cytosin, Urazil. Er roch den Gestank der Bottiche. Ein Ding. Ein Ding. Ein schönes Ding. Ein Ding in der Gestalt einer Frau. Ein Ding, das den Namen Lilith zu Recht trug.

Sie löste sich von ihm und sagte: »Warst du in der Fabrik?«

»Ja.«

»Und du hast mehr über Androiden erfahren, als du zu wissen wünschtest.«

»Nein, Lilith.«

»Du siehst mich mit anderen Augen jetzt. Du kannst nicht umhin, daran zu denken, was ich wirklich bin.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Manuel. »Ich liebe dich, Lilith. Was du bist, ist nichts Neues für mich, und es macht überhaupt keinen Unterschied. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«

»Möchtest du etwas trinken?« fragte sie. »Eine Zigarette? Eine Nervenpille? Du bist ja vollkommen durcheinander.«

»Nichts«, erwiderte er. »Es war ein langer Tag. Ich habe nicht einmal zu Mittag gegessen, und ich glaube, ich bin seit vierzig Stunden unterwegs. Ich möchte mich nur entspannen, Lilith. Keinen Tabak. Keine Pillen.« Er legte seine Kleider ab, und sie half ihm dabei. Dann machte sie einige Tanzschritte vor einem Doppler; es ertönte ein kurzes Geräusch, und ihr Gewand verschwand. Ihre Haut war hellrot, bis auf die dunkelbraunen Brustwarzen. Ihre Brüste waren voll, ihre Taille schmal, ihre Hüften breit, ein frappierend täuschendes Versprechen von Fruchtbarkeit. Ihre Schönheit war unmenschlich makellos. Manuel kämpfte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an.

Sie sagte traurig: »Ich fühlte die Veränderung in dir, als du mich berührtest. Deine Umarmung war anders. Es war… Furcht, nein… Ekel?«

»Nein.«

»Bis heute abend war ich etwas Exotisches für dich, aber etwas Menschliches, wie eine Frau aus dem Busch, wie eine Eskimofrau. Du hast mich bis jetzt nicht in eine besondere Kategorie außerhalb der menschlichen Rasse eingeordnet. Jetzt sagst du dir, daß du dich in einen Klumpen Chemikalien verliebt hast. Du glaubst etwas Krankhaftes zu tun, indem du eine Affäre mit mir hast.«

»Lilith, ich bitte dich, höre auf damit. Das bildest du dir nur ein!«

»Wirklich nur?«

»Ich bin gekommen. Ich habe dich geküßt. Ich habe dir gesagt, daß ich dich liebe. Ich brenne darauf, mit dir ins Bett zu gehen. Vielleicht projizierst du irgendeine eigene Schuld in mich, wenn du sagst…«

»Manuel, was würdest du vor einem Jahr gesagt haben über einen Mann, der zugab, daß er mit einer Androiden ins Bett gegangen ist?«

»Viele Männer, die ich kenne, haben das getan.«

»Was würdest du von ihm sagen? Welche Worte würdest du gebrauchen? Was würdest du von ihm denken?«

»Ich habe nie an so etwas gedacht. Es hat mich einfach nie interessiert.«

»Du weichst aus. Erinnere dich, wir haben versprochen, keines der unter Menschen üblichen Lügenspiele zu spielen. So war es doch? Du kannst nicht leugnen, daß in deinen Kreisen Sex zwischen Menschen und Androiden als eine Perversion betrachtet wird. Vielleicht das einzige, was in der Welt für euch Menschen noch als Perversion gilt. Habe ich recht? Willst du mir antworten?«

»Nun gut.« Er hatte nie eine Frau mit den Augen dieser Farbe gekannt. Langsam sagte er: »Die meisten Männer betrachten es als, nun, niedrig, anrüchig, mit Androiden zu schlafen. Ich habe gehört, wie man es mit Masturbation verglich. Als ob man es mit einer Gummipuppe täte. Als ich solche Bemerkungen hörte, hielt ich sie für häßliche, dumme Äußerungen eines antiandroiden Vorurteils. Ich selbst aber hatte nie eine derartige Einstellung, sonst hätte ich mich nie in dich verliebt.« Etwas in seinem Geist sang spöttisch: Denke an die Bottiche! Denke an die Bottiche! Sein Blick flackerte, wurde unsicher; er fixierte ihre Backenknochen. Mit gepreßter Stimme sagte er: »Vor dem ganzen Universum schwöre ich dir, Lilith, ich habe nie etwas Schändliches oder Schmutziges darüber empfunden, eine Androide zu lieben, und ich beteure dir, daß ich trotz dessen, was du seit meinem Besuch in der Fabrik in mir entdeckt zu haben glaubst, auch jetzt keinerlei solche Gefühle habe. Und um es zu beweisen…«