Eins-zwei-drei. Krug sei gepriesen.
Schneller! Eins-zwei-drei.
Eins-zwei-drei.
Gut. Sehr gut. Hier ist ein anderes wichtiges Zeichen. Es bedeutet Krug-erhalte-uns, und es wird vor allem in Augenblicken der Spannung oder des Zweifels gemacht, als ob man sagen wollte, hilf uns. Du wirst es immer machen, wenn der Text der Andacht Krug auffordert, Mitleid mit uns zu haben, uns zu helfen. Immer wenn wir Krug anflehen.
Krug ist also wirklich euer Gott, sagte ich verwundert.
Dies ist das Zeichen. Sie zeigte mir, wie man es macht. Eine Hand auf jede Brust legend, dann die Handfläche nach außen drehen. Es ist ein Akt der Reue: Sieh meine Seele, Krug! Mein Herz ist offen für dich. Sie machte das Zeichen mehrere Male, und ich machte es nach.
Und noch ein weiteres Zeichen, sagte Lilith. Das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Du machst es nur einmal, wenn du in den Gesichtskreis des Altars kommst. So, beuge ein Knie und strecke die Arme nach vorwärts, die Handflächen nach oben gekehrt.
Kommt es darauf an, welches Knie?
Eins von beiden. Versuch es!
Ich machte das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Ich war froh, es zu lernen. Irgendwie fühlte ich, daß ich mich während meines ganzen Lebens dem Willen Krugs unterworfen hatte, ohne es selbst zu wissen.
Lilith sagte, laß uns jetzt prüfen, ob du alles verstanden hast. Was tust du, wenn du die Kapelle betritst?
Eins-zwei-drei. Krug sei gepriesen.
Gut. Und dann?
Wenn ich den Altar sehen kann, mache ich das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Herunter auf ein Knie, die Hände vor, Handflächen nach oben.
Ja. Und?
Wenn Krug um Hilfe gebeten wird, mache ich das Zeichen Krug-erhalte-uns. Hände an die Brust, dann Handflächen nach außen drehen. Ich mache das Zeichen Krug-sei-gepriesen auch von Zeit zu Zeit, wenn der Name Krugs erwähnt wird.
Gut. Sehr gut. Du wirst keine Schwierigkeiten haben, Manuel.
Da ist noch eine andere Geste, die ich dich in der Gammastadt machen sah.
Zeig sie mir.
Ich hielt meine Hände hoch mit einander zugekehrten Handflächen, etwa einen halben Meter voneinander entfernt, und wackelte mit den Hüften und ging in die Knie, mit dem Körper eine spiralförmige Bewegung ausführend.
Das hast du in der Gammastadt gemacht, sagte ich, als der Mob wild wurde.
Lilith lachte. Man nennt es den Segen der Retorte, sagte sie. Es ist ein Zeichen des Friedens und ein Zeichen des Abschieds. Wir machen es über einer toten Person, beim letzten Gebet, und wir machen es, wenn wir zu jemand anders Lebewohl sagen in einer gespannten Situation. Es ist eins der heiligsten Zeichen. Und du hast es nicht sehr gut gemacht. Siehst du, es basiert auf der doppelten Spirale des Nukleinsäuremoleküls… der Form, in der die Moleküle sich miteinander verbinden. Wir versuchen, den Vorgang mit unseren Körpern anzudeuten. So.
Sie vollführte die Bewegung. Ich machte sie nach. Sie lachte.
Ich sagte, es tut mir leid. Mein Körper läßt sich nicht so verbiegen.
Es erfordert Übung. Aber du brauchst dieses Zeichen nicht zu machen. Bleibe bei ›Krug-sei-gepriesen‹ und ›Krug-erhalte-uns‹ damit wirst du auskommen. Gehen wir.
Sie führte mich in einen schäbigen Teil der Stadt, der früher einmal ein Geschäftsviertel gewesen sein mußte. Er war nicht so gespenstisch wie die Gammastadt und nicht von der abgeschabten Vornehmheit des Viertels, in dem die Alphas leben, es war nur trist.
Dort drüben ist die Kapelle, sagte sie.
Ich sah eine Ladenfront mit undurchsichtigen Schaufenstern. Einige Betas standen vor dem Gebäude, scheinbar beschäftigungslos. Wir überquerten die Straße. Ich wurde unsicher. Was wird geschehen, wenn sie mich entdecken. Was werden sie tun mit mir? Mit Lilith?
Ich bin Alpha Leviticus Leaper.
Die Betas traten zur Seite und machten das Krug-sei-gepriesen-Zeichen, als wir uns ihnen näherten, die Augen gesenkt, in respektvoller Haltung. Die soziale Distanz. Es wäre nicht so leicht für uns gewesen, wenn ich nicht die hohe, schlanke Gestalt eines Alphas hätte. Mein Vertrauen wuchs. Ich machte sogar das Krug-sei-gepriesen-Zeichen zu einem der Betas.
Wir betraten die Kapelle.
Ein großer, kreisrunder Raum. Keine Sitze. Ein Teppich aus dickem, weichem Zeug, dem man ansah, daß sich im Laufe der Zeit viele Personen auf ihm niedergekniet hatten. Gedämpfte Beleuchtung. Ich vergaß nicht, das Krug-sei-gepriesen-Zeichen zu machen, als wir eintraten. Eins-zwei-drei.
Ein kleiner Vorraum. Nachdem wir zwei Stufen hinuntergestiegen waren, gelangte der Altar in meinen Gesichtskreis. Lilith beugte ein Knie. Unterwerfung unter den Willen Krugs. Ich brauchte das Knie nicht zu beugen, ich fiel fast hin vor Verwunderung.
Der Altar: eine große, eckige Masse von etwas, das aussah wie lebendiges Fleisch, in einer Plastikwanne ruhend. In der Wanne eine purpurne Flüssigkeit, die diesen etwa einen Meter hohen, drei Meter langen und zwei Meter breiten Block aus rosafarbenem Fleisch umspülte, ihn manchmal überschwemmte.
Hinter dem Altar: Das Hologramm meines Vaters.
Vollkommene Ähnlichkeit. In voller Lebensgröße, en face, strenger Gesichtsausdruck, glühende Augen, zusammengepreßte Lippen. Nicht gerade ein Gott der Liebe. Stark. Ein Mann aus Stahl. Da es ein Hologramm ist, folgen einem die Augen; wo immer man sich in der Kapelle befindet, ist man dem Blick Krugs ausgesetzt.
Ich falle auf die Knie. Ich hebe die Hände, die Handflächen nach oben.
Unterwerfung unter den Willen Krugs!
Ich war verblüfft. Obwohl ich es vorher wußte, war ich verblüfft. Ist es so überall in der Welt, frage ich? Daß Androiden meinen Vater anbeten. Kaum hörbares Geflüster. Ja, sagt sie. Ja. Wir huldigen ihm, Krug sei gepriesen.
Dieser Mann, den ich mein ganzes Leben gekannt habe, dieser Erbauer von Türmen, dieser Erfinder von Androiden, ein Gott? Ich muß fast lachen. Bin ich Gottes Sohn? Ich passe nicht in diese Rolle. Offensichtlich betete niemand mich an. Ich bin nur eine Nebensache. Ich stehe außerhalb ihrer Theologie.
Wir erhoben uns wieder. Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung forderte Lilith mich auf, ihr zu folgen. Sie führte mich zu einer Stelle im Hintergrund der Kapelle, und wir knieten abermals nieder. In der Dunkelheit fühlte ich mich behaglicher. Es waren vielleicht zehn oder zwölf Androiden in der Kapelle, alle Betas, mit Ausnahme eines männlichen Alphas, der, uns den Rücken zukehrend, unmittelbar vor dem Altar kniete. Ich fühlte mich weniger verdächtig aufgrund seiner Anwesenheit. Weitere Betas kamen herein, machten die vorgeschriebenen Zeichen. Keiner beachtete uns. Die soziale Distanz.
Jedermann schien tief ins Gebet versenkt.
Ist das der Gottesdienst, Lilith?
Noch nicht. Wir sind ein wenig zu früh dran. Du wirst sehen.
Die Augen Krugs bohren sich in mich. Er sieht fast göttlich aus dort oben. Ich erwidere seinen Blick. Was würde er sagen, wenn er wüßte? Er würde lachen. Er würde mit der Faust auf seinen Schreibtisch schlagen. Er würde wiehern vor Vergnügen. Krug, der Gott! Jehova Krug! Simeon Allah! Bei Christus, das ist ein guter Witz! Warum, zum Teufel, sollen sie mich nicht anbeten? Habe ich sie nicht geschaffen?
Während sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen, prüfe ich das Muster an der Wand genauer. Es ist nicht, wie ich zuerst vermutete, ein rein abstraktes Ornament. Nein, ich sehe, daß sich die Buchstaben des Alphabetes immer von neuem wiederholen und jeden Zentimeter der Wandfläche bedecken. Nicht alle Buchstaben. Ich überfliege Zeile um Zeile und sehe nur A, U, G und C in verschiedenen Kombinationen, wie:
ADA AUG AUC AUU GAA GAG GAG GAU GGA GGG GGC GGU
GCA GCG GCC GCU GUA GUG GUC GUU CAA CAG CAC CAU
Und so weiter und so weiter. Was ist das, Lilith, das Ornament.