Der genetische Code, sagt sie. Die RNA-Buchstabengruppen.
Natürlich! Plötzlich erinnere ich mich, daß die slobiesüchtige Frau in der Gammastadt Buchstaben rief, G A A G A G G A C. Ich sehe sie jetzt an der Wand. Ein Gebet?
Die heilige Sprache, wie es das Latein für die Katholiken war?
Ich sehe.
Aber ich sehe nicht wirklich. Ich vermute es nur.
Ich sage, und aus was besteht der Altar?
Aus Fleisch. Aus synthetischem Fleisch.
Lebendig?
Natürlich. Direkt aus dem Bottich, wie du oder ich. Verzeihung, nicht wie du. Wie ich. Nur ein Klumpen lebendigen Androidenfleischs.
Was hält es lebendig? Es hat keine Organe oder etwas ähnliches?
Es entnimmt der Flüssigkeit, die es umgibt, Nährstoffe. Und es erhält irgendwelche Injektionen von unten. Aber es lebt. Es wächst. Es muß von Zeit zu Zeit getrimmt werden. Es symbolisiert unseren Ursprung. Nicht euren, unseren. Es gibt davon eines in jeder Kapelle. Herausgeschmuggelt aus der Fabrik.
Wie die Mißgeburten?
Wie die Mißgeburten.
Und ich dachte, die Sicherheitsmaßnahmen in den Androidenfabriken seien so streng, sage ich.
Lilith zwinkert mir zu. Ich beginne mich wie ein Teilnehmer an der Verschwörung zu fühlen.
Nun betreten drei Androiden die Kapelle durch den Hintereingang. Zwei Betas und ein Alpha. Sie tragen Brokatstolen, auf denen die Buchstaben des genetischen Codes eingestickt sind. Sie haben etwas Priesterliches an sich. Der Gottesdienst beginnt. Als die drei vor dem Altar niederknien, machen alle das Krug-sei-gepriesen-Zeichen und das Krug-erhalte-uns-Zeichen. Ich folge ihrem Beispiel.
Sind sie Priester?
Sie sind Zelebranten, sagt Lilith. Wir haben eigentlich keine Priesterschaft. Wir haben verschiedene Kasten, die verschiedene Rollen bei den verschiedenen Zeremonien spielen, entsprechend dem Charakter des Rituals. Der Alpha ist ein Erhalter. Er versetzt sich in Trance, die ihn in direkten Kontakt mit Krug dem Schöpfer bringt. Die zwei Betas sind Projektoren. Sie verstärken seinen Erregungszustand. Manchmal kannst du auch Verschlingen, Übergänger oder Beschützer amtieren sehen, unterstützt von Nachgebern oder Verteidigern.
Welcher Kaste gehörst du an?
Der Kaste der Verteidiger.
Und Thor Watchman?
Den Erhaltern.
Der Alpha am Altar begann zu singen: CAU, UUC, UCA, CGA, CCG, GCC, GAG, AUC.
Wird das Ganze in Code gesprochen?
Nein. Nur die Einführung.
Was sagt er?
Zwei Betas vor uns drehen sich um, wollen uns Schweigen gebieten, sehen, daß wir Alphas sind und beißen sich auf die Lippen. Lilith flüstert, noch leiser als vorher, er sagt, Krug bringt uns in die Welt, und zu Krug kehren wir zurück.
GGC, GUU, UUC, GAG.
Krug ist unser Schöpfer und unser Beschützer und unser Befreier.
UUC CUG, CUC, UAC.
Krug, wir flehen dich an, uns zum Licht zu führen.
Ich kann den Code nicht verstehen. Die Symbole haben für mich keinen Sinn. Welches Symbol ist Krug! Wie verhält es sich mit der Grammatik? Ich kann Lilith hier nicht fragen. Andere drehen sich um, starren uns an. Diese geräuschvollen Alphas dort hinten. Haben sie keinerlei Respekt?
Die Projektoren summen tiefe Akkorde. Der Erhalter fährt fort, den Code zu singen. Jetzt übernimmt Lilith ihre Rolle als Verteidigerin, wiederholt, was gesungen wird. Die Lichter werden abwechselnd dunkler und heller. Die Flüssigkeit über dem Altar brodelt heftiger. Das Bild Krugs scheint zu glühen. Sein Blick frißt sich in mein Gehirn.
Jetzt kann ich etwa die Hälfte der Worte des Gottesdienstes verstehen. Zwischen die Codezeichen eingestreut, bitten sie Krug, die Kinder der Retorte zu erlösen, ihnen die Freiheit zu schenken, sie auf die Ebene der Kinder des Leibes zu heben. Sie singen von dem Tag, da Leib und Retorte und Retorte und Leib eins sein werden. Mit schier endlosen Krug-erhalte-uns-Zeichen bitten sie Krug um Erbarmen. Krug! Krug! Krug! Alles hier dreht sich um die Vorstellung eines barmherzigen Krugs!
Ich beginne das Ganze zu verstehen. Dies ist eine weltweite Gleichheitsbewegung. Dies ist eine Androidenbefreiungsfront!
Krug, unser Herr, führe uns auf unseren rechtmäßigen Platz neben unseren Brüdern und Schwestern des Fleisches. Krug, bringe uns Erlösung. Krug, beende unser Leiden.
Gepriesen sei Krug.
Ehre sei Krug.
Die Andacht gewinnt an Inbrunst. Alle singen, summen, machen Zeichen, auch solche, die Lilith mir nicht gezeigt hat. Lilith ist vollkommen ins Gebet vertieft. Ich fühle mich isoliert als Ungläubiger, als Eindringling, während ich ihnen zuhöre, wie sie zu ihrem Schöpfer, meinem Vater, beten, der ihr Gott ist. Für lange Zeitspannen verwenden sie nur die Codesprache, doch vertraute Worte klingen immer wieder durch. Krug, steige herab und erlöse uns. Krug, gib uns deinen Segen. Krug, beende diese Zeit der Prüfung. Krug, wir brauchen dich. Krug Krug Krug Krug Krug. Bei jedem Krug zucke ich zusammen, fühle einen Stich zwischen den Schulterblättern. Ich habe nie etwas davon geahnt. Wie haben sie es so geheimhalten können? Krug, der Gott. Mein Vater, der Gott. Und auch ich bin Krug. Wenn Krug stirbt, wen werden sie dann anbeten? Wie kann ein Gott sterben? Predigen sie die Wiederauferstehung Krugs? Oder ist Krug auf Erden nur eine vorübergehende Manifestation des wahren Krugs im Himmel? Aus einigen Zeilen des Gesangs schließe ich auf derartige Vorstellungen.
Jetzt singen sie alle zusammen in einem dröhnenden Gleichklang:
AAA, AAG AAC AAU sei Krug.
AGA AGG AGC AGU sei Krug.
ACA ACG ACC ACU sei Krug.
Sie bieten ihm den gesamten genetischen Code, Zeile für Zeile. Ich entdecke die Textstelle an der Wand und lese ihn mit. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme in den Gesang einfallen:
GAA GAG GAC GAU sei Krug.
GAA GGG GGC GGU sei Krug.
Lilith wendet den Kopf und lächelt mir zu. Ihr Gesicht ist gerötet, erregt, fast wie in sexueller Verzückung. Sie nickt, ermutigt mich.
Ich singe lauter.
GCA GCG GCC GCU sei Krug.
GUA GUG GUC GUU sei Krug.
Und so geht es weiter. Keiner trifft den falschen Ton. Es klingt alles harmonisch, als ob die Androiden in verschiedenen Tonlagen aufeinander eingestimmt wären. Ich habe ein wenig Schwierigkeiten, mich anzupassen, aber ich singe mit ihnen bis zum Ende, UUA UUG UUC UUU sei Krug.
Wir erheben uns. Wir nähern uns dem Altar. Schulter an Schulter vor dem Altar stehend, Lilith zu meiner Linken und ein Beta zu meiner Rechten, legen wir die Hände auf diesen Block lebendigen Fleisches. Es kostet mich Überwindung. Er ist warm und schlüpfrig. Er lebt. Er zuckt und wabbelt, als wir ihn berühren. Ein Vibrieren durchläuft uns. Krug, singen wir, Krug, Krug, Krug, Krug.
Der Gottesdienst ist zu Ende.
Einige der Androiden gehen hinaus. Andere bleiben, offenbar zu erschöpft durch das Erlebnis, ruhen sich aus, um später zu gehen. Ich fühle mich ebenso, und ich habe kaum teilgenommen. Eine inbrünstige religiöse Gemeinde. Religion soll tot sein, sagt man, ein seltsamer alter Brauch, fast vergessen, aber nicht bei diesen Leuten. Sie glauben an höhere Mächte und die Wirksamkeit des Gebetes. Sie glauben, Krug hört zu. Hört Krug wirklich zu? Hat Krug je zugehört? Doch sie glauben es. Wenn er sie jetzt nicht erhört, sagen sie, wird er sie später erhören. Und wird sie aus ihrer Sklaverei befreien. Opium für die Massen? Aber auch die Alphas glauben daran.
Du, Lilith, sage ich, wie lange besteht diese Religion schon?
Schon bevor ich geboren wurde.
Wer hat sie erfunden?
Sie hat ihren Ursprung hier in Stockholm, in einer Gruppe von Alphas. Sie verbreitete sich schnell. Jetzt gibt es Gläubige in der ganzen Welt.
Glauben alle Androiden?
Nicht alle. Die AGP-Leute glauben nicht. Wir bitten um Wunder und göttliche Gnade; sie sind für unmittelbare politische Agitation. Aber wir sind zahlreicher als sie. Die meisten von uns glauben. Mehr als die Hälfte. Fast jeder Gamma, die meisten Betas und viele Alphas.