Und ihr glaubt allen Ernstes, wenn ihr fortfahrt, Krug zu bitten, euch zu befreien, daß er es tun wird?
Lilith lächelt. Auf was sonst können wir hoffen?
Habt ihr euch je direkt an Krug gewandt?
Nie. Siehst du, wir unterscheiden zwischen Krug, dem Menschen, und Krug, dem Schöpfer, und wir glauben… Sie schüttelt den Kopf. Sprechen wir nicht hier darüber. Jemand könnte uns hören.
Wir wenden uns zum Gehen. Auf halbem Weg zur Tür bleibt sie stehen, geht zurück, nimmt etwas aus einer Schachtel am Fuße des Altars. Sie reicht es mir. Es ist ein Datenwürfel. Sie schaltet ihn ein, und ich lese die Worte, die erscheinen:
Im Anfang war Krug, und er sprach, es seien Retorten, und da waren Retorten.
Und Krug betrachtete die Retorten und fand sie gut.
Und Krug sprach, es seien Nukleotiden in den Retorten. Und die Nukleotiden wurden in die Retorten gegossen, und Krug mischte sie, bis sie sich miteinander verbanden.
Und die Nukleotiden bildeten die großen Moleküle, und Krug sprach, es werde der Vater und werde die Mutter in den Retorten und es teilen sich die Zellen und Leben entstehe in den Retorten.
Und es ward Leben, denn da war Reproduktion.
Und Krug überwachte die Reproduktion und berührte die Flüssigkeiten mit seinen eigenen Händen und gab ihnen Form und Wesen.
Es kommen Männer aus den Retorten, sprach Krug, und es kommen Frauen aus ihnen, und sie sollen leben und unter uns umhergehen und stark sein und nützlich, und wir werden sie Androiden nennen.
Ich drehe den Würfel zwischen den Fingern. Worte von gleicher Art erscheinen, immer mehr. Eine Androidenbibel. Nun, warum nicht?
Faszinierend, sage ich zu Lilith. Wann wurde das geschrieben?
Man begann vor Jahren damit. Sie fügen jetzt immer neue Kapitel hinzu. Über die Natur Krugs und das Verhältnis des Menschen zu Krug.
Das Verhältnis des Menschen zu Krug. Wunderbar.
Sie sagt, behalte den Würfel, wenn du ihn interessant findest. Er gehört dir.
Wir verlassen die Kapelle. Ich verstecke die Androidenbibel unter meinen Kleidern.
In Liliths Wohnung zurückgekehrt, sagt sie, jetzt kennst du unser großes Geheimnis, unsere große Hoffnung.
Was erwartet ihr eigentlich konkret, das mein Vater für euch tun soll?
Eines Tages, sagt sie, wird er vor die ganze Welt treten und seine Gedanken über uns enthüllen. Er wird sagen, diese Androiden sind ungerecht behandelt worden, und nun ist es Zeit, das zu ändern. Verleihen wir ihnen das Bürgerrecht. Verleihen wir ihnen volle Rechte. Hören wir auf, sie als Eigentum zu behandeln, als Dinge zu betrachten. Und weil er Krug ist, weil er derjenige ist, der der Welt die Androiden geschenkt hat, wird die ganze Welt auf ihn hören. Er wird alle umstimmen. Und unsere Lage wird sich ändern.
Glaubst du wirklich, daß das geschehen wird?
Ich hoffe es und bete darum, sagt sie schlicht.
Wann wird es geschehen? Bald?
Es ist nicht meine Sache, darüber nachzusinnen. Es ist Krugs Wille. Vielleicht in fünf Jahren… in zwanzig Jahren… in vierzig Jahren… vielleicht nächsten Monat. Lies den Würfel, den ich dir gegeben habe. Er erklärt dir, warum wir glauben, daß Krug uns nur prüft, sehen will, wie tapfer wir sind. Eines Tages wird die Prüfung vorüber sein.
Ich wünschte, ich könnte deinen Optimismus teilen, sage ich. Doch ich fürchte, ihr müßt noch eine lange, lange Zeit warten.
Warum sagst du das?
Mein Vater ist nicht so menschenfreundlich, wie ihr glaubt. Er ist kein Schurke, nein. Aber er denkt nicht viel an andere Menschen und ihre Probleme. Er geht vollkommen auf in seinen Projekten, an etwas anderes denkt er überhaupt nicht. Er käme gar nicht auf die Idee, sich über das Schicksal der Androiden Gedanken zu machen.
Doch im Grunde ist er ein anständiger Charakter, sagt Lilith. Ich meine, Krug, der Mann. Nicht die göttliche Gestalt, zu der wir beten. Krug, dein Vater.
Ja, er ist anständig.
Dann wird er unsere Anliegen begreifen und unsere Sehnsucht verstehen.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Ich nahm sie in meine Arme. Lilith, ich wünschte, Ich könnte dir helfen!
Du kannst es.
Wie?
Sprich mit deinem Vater über uns, sagte sie.
32
30. Januar 2219
Der Turm ist jetzt 1165 Meter hoch. Selbst die Androiden haben nun Schwierigkeiten mit der dünnen, kalten Luft, während sie mehr als einen Kilometer über der Oberfläche der Tundra arbeiten. Sechs sind in den letzten zehn Tagen bewußtlos geworden und in die Tiefe gestürzt. Thor Watchman hat Sauerstoffinfusionen für alle angeordnet, die auf dem Gipfel arbeiten, doch viele der Gammas lehnen das Spray als entwürdigend ab. Zweifellos wird es zu mehr tödlichen Unfällen kommen, während die letzten 335 Meter des Turms im Februar und März gebaut werden.
Aber wie prachtvoll das Bauwerk jetzt ist! Die letzten wenigen hundert Meter können seine Majestät und Eleganz nicht steigern, sie können nur einen Schlußpunkt setzen auf das Wunder, das bereits existiert. Es steigt, schlanker werdend, auf zu schwindelnder Höhe, und seine Spitze verliert sich hoch oben in einer Aura von Licht. Im Innern machen die geschäftigen Techniker schnelle Fortschritte bei der Installierung des Kommunikationssystems. Man hofft jetzt, daß die letzten Beschleunigereinheiten im April montiert sein werden, daß die Protonenstrecke im Mai befahren werden kann, daß die ersten Tests mit dem Tachyongenerator im Juni durchgeführt und vielleicht im August die ersten Botschaften ausgeschickt werden können.
Vielleicht wird das Sternenvolk antworten; vielleicht auch nicht.
Es ist gleichgültig. Der Platz des Turmes in der Menschheitsgeschichte ist gesichert.
33
Als er bei Tagesbeginn neben der schnarchenden Quenelle in Uganda aufwachte, fühlte Krug eine brandende Welle von Energie in sich aufsteigen. Er hatte sich selten so stark gefühlt. Er nahm es als ein gutes Vorzeichen: dies war ein Tag, den man ausnutzen mußte, ein Tag, an dem er seine ganze Kraft einsetzen würde für die Verfolgung seiner verschiedenen Ziele. Er frühstückte und ließ sich durch den Transmat nach Denver bringen.
Morgen in Ostafrika war Abend in Colorado; am Raumschiff arbeitete die Spätschicht. Doch Alpha Romulus Fusion war anwesend, der fleißige Vorarbeiter des Montagezentrums. Er berichtete Krug stolz, das Raumschiff sei bereits aus seinem unterirdischen Bauhangar auf den angrenzenden Startplatz gebracht worden, wo es für seine ersten Testflüge sorgfältig vorbereitet werde.
Krug und Alpha Fusion begaben sich zum Startplatz. Unter dem Schein von Reflektorplatten sah das Raumschiff nicht besonders eindrucksvoll aus, denn es war in seiner Größe nicht ungewöhnlich – einfache Raumschiffe waren viel größer –, und seine unebene Oberfläche glänzte nicht in der künstlichen Beleuchtung. Doch es schien Krug unaussprechlich schön, wurde an Eleganz nur übertroffen durch den Turm.
»Welche Art von Testflügen sind geplant?« fragte er.
»Ein Drei-Stufen-Programm«, sagte Romulus Fusion, »Anfang Februar werden wir es zum erstenmal starten und es in die Erdumlaufbahn bringen. Dies geschieht nur, um zu überprüfen, ob das Hauptantriebssystem richtig funktioniert. Als nächstes kommt der erste Geschwindigkeitstest, gegen Ende Februar. Wir werden die Beschleunigung auf volle 2,4 g fahren und eine kurze Reise machen, wahrscheinlich zur Marsumlaufbahn. Wenn dies nach Plan verläuft, werden wir im April einen größeren Geschwindigkeitstest unternehmen, und zwar mit einer Reise, die mehrere Wochen dauern wird und in der es mehrere Milliarden Kilometer zurücklegen wird, also über die Umlaufbahn des Saturns hinaus und möglicherweise bis zum Pluto. Das wird uns Klarheit darüber verschaffen, ob das Schiff fähig ist, eine interstellare Reise zu unternehmen. Wenn es sich auf der Reise zum Pluto und zurück unter konstanter Beschleunigung halten kann, müßte es in der Lage sein, überallhin zu fliegen.«