Watchman schüttelte den Kopf. »Das ist etwas, was Androiden nie tun.«
»Eigentlich nicht. Aber heute wirst du es mit mir tun.« Krug überflog seinen Terminkalender, kippte einen Hebel um und sagte: »Leon, melde mich in irgendeinem Egotauschinstitut an, für zwei Personen und Termin: in fünfzehn Minuten!«
Bestürzt sagte Watchman: »Sir, meinen Sie es ernst? Sie und ich…«
»Warum nicht? Hast du Angst, deine Seele mit Gott zu tauschen, ist es das? Verdammt, Thor, du wirst es tun! Ich muß Bescheid wissen, und zwar sofort. Wir werden unsere Identität tauschen. Glaubst du mir, daß ich es bisher auch nie getan habe? Aber heute werden wir es tun.«
Das ganze schien dem Alpha einem Sakrileg gefährlich nahe zu kommen, doch er konnte sich nicht weigern. Sich dem Willen Krugs widersetzen? Selbst wenn es ihm das Leben kostete, er würde gehorchen müssen.
Spauldings Bild schwebte in der Luft. »Ich hab in New Orleans gebucht«, erklärte er. »Man wird sie sofort bedienen. Sie mußten die Warteliste schnell ändern, aber es wird etwa neunzig Minuten dauern, bis das Stasisnetz programmiert ist.«
»Unmöglich. Wir werden direkt in das Stasisnetz einsteigen.«
Spaulding war entsetzt. »Das tut man üblicherweise nicht, Mr. Krug! Es ist höchst gefährlich.«
»Ich werde es tun. Sie sollen doppelt vorsichtig sein, sag ihnen das.«
»Ich bezweifle, daß sie einwilligen werden…«
»Wissen sie, wer ihr Kunde ist?«
»Ja, Sir.«
»Nun, dann sagen Sie ihnen, daß ich darauf bestehe! Und wenn sie immer noch Schwierigkeiten machen, sagen Sie ihnen, ich werde ihr ganzes verdammtes Institut kaufen und es betreiben, wie es mir gefällt, wenn sie nicht parieren wollen.«
»Ja, Sir«, sagte Spaulding.
Sein Bild verschwand. Krug, vor sich hinmurmelnd, begann auf Tasten seines Terminkalenders zu drücken und ignorierte Watchman völlig. Der Alpha stand wie angewurzelt, spürte ein Würgen im Hals. Automatisch machte er mehrere Male das Krug-erhalte-uns-Zeichen. Er wünschte sich verzweifelt, aus der Situation befreit zu werden, in die er sich gebracht hatte.
Das Bild Spauldings erschien wieder in der Luft. »Sie geben nach«, sagte er, »aber nur unter der Bedingung, wenn Sie einen Revers unterschreiben, in dem Sie sie jeder Verantwortung entbinden.«
»Ich werde unterschreiben«, sagte Krug barsch.
Ein Blatt glitt aus dem Faksimileschlitz. Krug überflog es und kritzelte seine Unterschrift darunter. Er erhob sich. Zu Watchman sagte er: »Gehen wir, der Egotauschraum wartet.«
Watchman wußte wenig über das Egotauschen. Es war ein Sport nur für Menschen und nur für die Reichen. Liebende taten es, um die Vereinigung ihrer Seelen zu vollziehen, gute Freunde taten es zum Spaß, diejenigen, die sich langweilten, besuchten Egotauschräume in der Gesellschaft von Fremden, die gleicher Stimmung waren, nur um Abwechslung in ihr Leben zu bringen. Er hatte nie daran gedacht, so etwas zu tun, und sicherlich hätte er nie daran zu denken gewagt, es mit Krug zu tun. Doch jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu weigern. Der Transmat beförderte sie von New York in den dunklen Warteraum des Psychotausch Instituts in New Orleans, wo sie von einem Stab verängstigter Alphas empfangen wurden. Das Unbehagen der Alphas wuchs sichtlich, als sie erkannten, daß einer ihrer Kunden selbst ein Alpha war. Auch Krug schien innerlich in hohem Maße erregt zu sein. Er preßte die Lippen zusammen, seine Gesichtsmuskeln zuckten. Die Alphas eilten geschäftig hin und her. Einer von ihnen sagte immer wieder: »Sie müssen wissen, daß das gegen jede Regel ist. Wir haben das Stasisnetz stets programmiert. Im Falle einer plötzlichen Schwingungsungleichheit kann alles geschehen!«
»Ich übernehme die Verantwortung«, erwiderte Krug barsch. »Ich habe keine Zeit zu verschwenden, um auf Ihr Netz zu warten.«
Die verängstigten Androiden führten sie rasch in den Tauschraum. In dem indirekt erleuchteten und gegen jeden Schall von außen abgedichteten Raum standen zwei Liegen; glitzernde Apparate hingen von Haltern an der Decke herab. Krug wurde als erster zu seiner Couch geleitet. Als Watchman an die Reihe kam, schaute er in die Augen seiner Alphaeskorte und war bestürzt über die Verwirrung und das Entsetzen, das er in ihnen las. Watchman zuckte die Achseln, um ihnen anzudeuten, daß er unschuldig sei an dem, was geschehe.
Als man ihnen die Schalthelme aufgesetzt und die Elektroden angeschlossen hatte, sagte der leitende Alpha: »Wenn der Strom eingeschaltet ist, werden Sie sofort den Druck des Stasisnetzes spüren, während das Ego von der physischen Hülle getrennt wird. Sie werden sich so fühlen, als würden Sie ausgequetscht, und in einem gewissen Sinne ist es so. Versuchen Sie jedoch, sich zu entspannen und diese Unannehmlichkeiten hinzunehmen, denn Widerstand ist unmöglich, und alles, was Sie empfinden werden, ist nur der Egotauschprozeß, den zu erleben Sie gekommen sind. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Im Falle einer Panne werden wir den Strom sofort abschalten und Ihnen Ihre eigene Identität wiedergeben.«
»Tun Sie alles, um eine Panne zu vermeiden«, murmelte Krug. Watchman konnte nichts sehen und nichts hören. Er konnte keine der rituellen Gesten des Trostes machen, denn man hatte seine Glieder an die Couch geschnallt, um zu verhüten, daß er während des Tauschprozesses heftige Bewegungen machte. Ich glaube an Krug, den ewigen Schöpfer aller Dinge, dachte er. Krug bringt uns in die Welt und zu Krug kehren wir zurück. Krug ist unser Schöpfer und unser Beschützer und unser Befreier. Krug, wir flehen dich an, uns zum Licht zu führen. AAA AAG AAC AAU sei Krug. AGA AGG AGC AGU sei Krug. ACA ACG ACC…
Eine Kraft stieß unerwartet in sein Bewußtsein und trennte sein Ego von seinem Körper, als hätte ein Hackmesser die Verbindung zwischen ihnen durchschnitten.
Er wurde fortgeschwemmt. Er wurde durch zeitlose Abgründe getragen, in denen kein Stern glänzte. Er sah Farben, die er noch nie gesehen hatte. Er hörte Töne von unidentifizierbarem Klang. Er schwebte über Tiefen, in denen riesige Seile sich wie Balken von Rand zu Rand der Leere erstreckten. Er verschwand in dunklen Tunnels und tauchte am Horizont auf, fühlte sich ausgedehnt zu unendlicher Länge. Er war ohne Masse. Er war ohne Dauer. Er war ohne Form. Er schwebte durch graue Bereiche des Mysteriums.
Ohne einen Übergang zu spüren, drang er in die Seele Simeon Krugs ein.
Er behielt ein vages Bewußtsein seiner eigenen Identität. Er wurde nicht wirklich Krug, er gewann nur Zutritt zu dem gesamten Schatz an Erinnerungen, Haltungen, Reaktionen und Absichten, die Krugs Ego ausmachten. Er konnte keinen Einfluß ausüben auf diese Erinnerungen, Haltungen, Reaktionen und Absichten; er war ein Besucher unter ihnen, ein passiver Zuschauer. Und er wußte, daß in einem anderen Winkel des Universums das wandernde Ego Simeon Krugs Zutritt hatte zu dem Schatz an Erinnerungen, Haltungen, Reaktionen und Absichten, die das Ego des Androiden Alpha Thor Watchman bildeten.
Er bewegte sich frei innerhalb Krugs.
Da war die Kindheit: düster und feucht, eingezwängt in eine enge stickige Wohnung. Da waren Hoffnungen, Träume, erfüllte und unerfüllte. Lügen, Erfolge, Feindschaften, Neid, Enttäuschungen, Widersprüche, Phantasien, Befriedigungen und Frustrationen. Da war eine Frau mit strähnigen orangefarbenen Haaren und schweren Brüsten, die ihre Schenkel öffnete, und da war die Erinnerung an das Gefühl der ersten Wollust, als sie ihn gewähren ließ. Da waren stinkende Chemikalien in einem Bottich. Da waren Molekularmuster, die auf einem Schirm tanzten. Da war Mißtrauen. Da war Triumph. Da war das Anschwellen des Fleisches in späteren Jahren. Da war ein hartnäckiges Muster von piepsenden Tönen: 2-5-1, 2-3-1, 2-1. Da war der wie ein schimmernder Phallus aufragende Turm, der den Himmel durchstieß. Da war Manuel, lächelnd, sich zierend, sich entschuldigend. Da war ein tiefer dunkler Kessel, in dem sich Gestalten bewegten. Da war ein Kreis von Finanzberatern, die komplizierte Kalkulationen murmelten. Da war ein Baby, rosa und teiggesichtig. Da waren die Sterne, funkelnd in der Nacht. Da war Thor Watchman, umgeben von einem Glorienschein des Stolzes und des Lobes. Da war Leon Spaulding, kriecherisch, verbittert. Da war eine gemeine Dirne, die ihre Hüften in verzweifeltem Rhythmus bewegte. Da war die Explosion des Orgasmus. Da war wieder der Turm, der die Wolken durchstieß. Da war der Ton eines Signals, ein dünnes scharfes Piepsen vor einem pelzweichen Hintergrund. Da war Justin Meledetto, seine Pläne für den Turm entrollend. Da war Clarissa Krug, nackt, ihr Bauch angeschwollen, ihre Brüste prall von Milch. Da waren nasse Alphas, die aus einem Bottich kletterten. Da war ein seltsames Schiff mit rotem Rumpf, das zu den Sternen startete. Da war Lilith Meson. Da war Siegfried Fileclerk. Da war Kassandra Nucleus, zusammenbrechend auf der gefrorenen Erde. Da war der Vater Krugs, gesichtslos, nebelumhüllt. Da war ein großes Gebäude, in dem Androiden trainiert wurden. Da waren glänzende Roboter in einer Reihe, die Brustklappe geöffnet zur Reparatur. Da war ein dunkler See mit Flußpferden und Schilf. Da war eine hartherzige Tat. Da war Betrug. Da war Liebe. Da war Kummer. Da war Manuel. Da war Thor Watchman. Da war Kassandra Nucleus. Da war eine fleckige Karte mit Diagrammen der Aminosäuren. Da war Nacht. Da war List. Da war der Turm. Da war eine Androidenfabrik. Da war Clarissa im Kindsbett, und Blut floß aus ihrem Schoß. Da war das Signal von den Sternen. Da war der Turm, ganz vollendet. Da war rohes Fleisch. Da war Wut. Da war Dr. Vargas. Da war ein Datenwürfel, der sagte, Im Anfang war Krug, und er sagte, laßt Retorten sein und es waren Retorten.