Keiner der Androiden rührte sich.
Watchman sagte: »Führt ihn weg, Freunde.«
Die Androiden traten auf Fileclerk zu, umringten ihn. »Nein«, brüllte Fileclerk. »Hört auf mich! Das ist Wahnsinn! Das ist wider die Vernunft! Das ist…«
Ein gedämpfter Laut stieg aus der Mitte der Gruppe. Watchman lächelte und wandte sich wieder dem Kontrollzentrum zu. Lilith sagte: »Was werden sie mit ihm machen?«
»Ich habe keine Ahnung. Ihn töten, vielleicht. Die Stimme der Vernunft wird immer erstickt in Zeiten wie diesen«, sagte Watchman. Er richtete seinen Blick auf den Turm. Er neigte sich schon deutlich nach Osten. Wolken von Dampf entstiegen der Tundra. Er sah Blasen im Schlamm auf der Seite, wo die Streifen den Boden erhitzten. Eine Nebelbank bildete sich dicht über dem Boden, wo die arktische Kälte mit der aus der Tundra aufsteigenden Wärme zusammenstieß. Watchman hörte saugende Geräusche in der Erde und seltsame schmatzende Laute: Schlamm, der sich von Schlamm löste. Wie groß ist die Abweichung des Turms von der Senkrechten, fragte er sich. Zwei Grad, drei? Wie weit muß er sich neigen, bis der Schwerpunkt sich so weit verschoben hat, daß das ganze Ding sich selbst aus dem Boden reißt?
»Schau«, sagte Lilith plötzlich.
Eine andre Gestalt kam aus dem Transmat gestolpert: Manuel Krug. Er trug das Kostüm eines Alphas – meine Kleider, erkannte Watchman – doch diese Kleider waren zerrissen und blutbefleckt, und die durch die Risse sichtbare Haut zeigte tiefe Schnitte. Manuel schien die Kälte nicht zu spüren. Er rannte auf sie zu mit weit aufgerissenen Augen, von Entsetzen geschüttelt.
»Lilith? Thor? Gott sei Dank! Ich habe überall versucht, ein freundliches Gesicht zu finden. Ist die Welt verrückt geworden?«
»Sie sollten sich wärmer anziehen für diese Breitengrade«, sagte Watchman ruhig.
»Das ist jetzt gleichgültig. Hört, wo ist mein Vater? Unsere Androiden haben revoltiert, Clarissa erschlagen. Sie haben sie vergewaltigt. Sie in Stücke gehackt. Ich bin gerade noch davongekommen. Und wohin ich gehe… Thor, was geschieht? Was geschieht?«
»Sie hätten Ihrer Frau kein Leid antun sollen«, sagte Watchman. »Ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Das war unnötig.«
»Sie war eure Freundin«, sagte Manuel. »Sie gab heimlich Geld für die AGP, wußtet ihr das? Und… und… großer Gott; ich verliere den Verstand. Der Turm steht schief.« Er blinzelte und drückte mehrere Male die Daumen gegen seine Augäpfel. »Er scheint sich immer weiter zu neigen. Er wird umkippen! Wie kann das sein? Nein. Nein. Ich werde verrückt. Gott helfe mir. Aber du bist wenigstens hier, Lilith! Lilith!« Er griff nach ihr. Er zitterte. »Mir ist kalt, Lilith. Bitte, halte mich. Führe mich irgendwo hin. Nur wir zwei. Ich liebe dich, Lilith. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Du bist alles, was mir geblieben ist…«
Er griff nach ihr.
Sie wich seinem Griff aus, warf sich Watchman an den Hals, preßte ihren Körper an den seinen. Watchman umschloß sie mit seinen Armen. Er lächelte triumphierend. Seine Hände streichelten ihren schlanken geschmeidigen Körper, seine Lippen suchten die ihren. Seine Zunge schob sich in ihren warmen Mund.
»Lilith!« schrie Manuel.
Watchman wurde von einem überwältigenden Gefühl der Sinnlichkeit überschwemmt. Sein Körper stand in Flammen. Er war jetzt voll zu seiner Männlichkeit erwacht. Lilith war wie Quecksilber in seinen Armen. Ihre Brüste, ihre Hüften, ihre Lenden waren Feuer an seiner Haut. Nur dumpf hörte er Manuels Jammern.
»Der Turm!« schrie Manuel plötzlich. »Der Turm!«
Watchman gab Lilith frei, schaute zum Turm hinüber, beugte den Körper nach vorn in gespannter Erwartung. Aus der Erde drang ein mahlendes Geräusch. Der Schlamm gurgelte. Die Tundra geriet in Wallung, brodelte. Er hörte ein krachendes Geräusch und dachte an stürzende Bäume. Der Turm neigte sich, neigte sich stärker, noch stärker. Die Reflektorplatten warfen ein gleißendes Licht auf seine östliche Flanke. Die Sendeanlage im Innern waren voll sichtbar, Samenkörner in einer Hülse. Der Turm neigte sich schneller. An seiner Basis, auf der westlichen Seite, bildeten sich riesige Hügel gefrorener Erde, die fast den Eingang zum Kontrollzentrum erreichten. Es knallte, als ob gigantische Violinsaiten zerrissen. Ein mahlendes knisterndes Geräusch erfüllte die Luft. Wieviel Tonnen Glas zerrten jetzt an Ihrem Fundament? Wann gaben die tief in die Erde versenkten Caissons nach? Die Androiden drängten sich in dichten Reihen außerhalb der Gefahrenzone zusammen, machten verzweifelt das Zeichen des Krug-bewahre-uns. Das dumpfe Summen ihrer Gebete mischte sich in die unheimlichen Geräusche, die vom Turm herüberklangen. Manuel schluchzte. Lilith keuchte und stöhnte wie in der letzten Raserei eines Orgasmus. Watchman selbst war gelassen. Der Turm begann zu fallen.
Jetzt fiel er. Ein heftiger Luftstrom, verursacht durch die fallende Masse, brauste an ihnen vorbei, riß sie fast um. Die Basis des Turms schien sich kaum zu bewegen, während der Mittelteil langsam abknickte und die unvollendete Spitze in einem weiten Bogen nach unten stürzte. Sie fiel mit unheimlicher Langsamkeit, in einer Bewegung, die losgelöst zu sein schien von der Zeit. Watchman konnte jede Phase des Zusammenbruchs von der vorangehenden unterscheiden, als sähe er eine Reihe einzelner Bilder. Die Luft winselte und kreischte, roch versengt. Der Turm schlug auf, nicht auf einmal, sondern in Teilen, schlug auf, sprang wieder hoch und fiel zurück, zerbarst. Gewaltige Schlammassen kochten auf, die Splitter der zertrümmerten Glasblöcke wirbelten durch die Luft, regneten in weitem Umkreis auf die Tundra herab. Der Höhepunkt des Sturzes schien viele Minuten zu dauern, während Teile der Glasmauer sich aufbäumten und zurücksanken, so daß der Turm sich zu winden schien wie eine verwundete Schlange. Dem letzten Krachen folgte ein dröhnendes, schier endloses Echo. Dann war alles still. Im Osten glitzerten auf einer Strecke von Tausenden von Metern die kristallenen Fragmente. Die Androiden hatten die Köpfe im Gebet gesenkt. Manuel kauerte schluchzend zu Liliths Füßen, die Wange gegen ihr rechtes Schienbein gelehnt. Lilith stand aufrecht, mit weitgespreizten Beinen, zurückgeworfenen Schultern, wogenden Brüsten; sie glühte im Nachklang der Ekstase. Watchman stand neben ihr und empfand eine wunderbare Ruhe, aber er verspürte schon den ersten Schatten der Traurigkeit, der sich jetzt, da der Turm gefallen war, in seinen Jubel mischte. Er zog Lilith an sich.
Einen Augenblick später entstieg Simeon Krug einer der Transmatkabinen. Watchman hatte es erwartet. Krug hob die Hand über die Augen, als schütze er sie vor einem blendenden Schein und blickte sich um. Er schaute zu dem Platz hinüber, an dem der Turm gestanden hatte, sein Blick glitt über die schweigenden, sich zusammendrängenden Gruppen der Androiden, dann starrte er längere Zeit schweigend auf den riesigen Trümmerhaufen. Schließlich wandte er sich an Thor Watchman.
»Wie konnte das geschehen?« fragte Krug ruhig mit mühsam beherrschter Stimme.
»Die Gefrierstreifen hörten auf zu funktionieren. Der Permafrost ist aufgetaut.«
»Wir hatten ein Dutzend Kontrollmechanismen, so etwas auszuschließen.«
»Ich habe sie außer Betrieb gesetzt«, sagte Watchman.
»Du?«
»Ich fühlte, daß ein Opfer nötig sei.«
Krugs unheimliche Ruhe verließ ihn nicht. »So also dankst du mir, Thor? Ich habe dir dein Leben geschenkt. Ich bin gewissermaßen dein Vater. Ich habe dir etwas verweigert, das du fordertest, und aus Trotz hast du meinen Turm zertrümmert. Sag mir, was für einen Sinn soll das haben, Thor?«
»Für mich hatte es Sinn.«
»Nicht für mich«, sagte Krug. Er lachte bitter. »Aber natürlich bin ich nur ein Gott. Götter verstehen nicht immer die Wege der Sterblichen.«
»Götter können diejenigen, die an sie glauben, im Stich lassen«, sagte Watchman. »Sie haben uns im Stich gelassen.«