Er wußte jetzt, daß er keine Wahl hatte. Er mußte mit ihnen zur Sonnenseite zurückkehren. Denn selbst wenn er ihnen die Wahrheit gesagt hätte, sie würden ihm nicht geglaubt haben, sie würden darauf bestehen, es selbst zu sehen. Er würde den Mund halten, und das war alles, was er jetzt tun konnte.
Vier Tage später hob ein Y-90 Kreuzer für Weltraumforschung und mit Hitzeschutzeinrichtung ausgestattet, von Mojave ab. Kellard hatte geschwiegen. Und noch immer schweigend saß er in seinem Startsitz, spürte die Stöße, hörte Halfrich neben sich grunzen und hoffte sehnlichst, daß diesem das Ganze zuwider wäre.
Halfrich hatte einen Biophysiker zur Unterstützung mitgebracht, einen Mann mittleren Alters mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Er hieß Morgenson. Auch ihm schien das Unternehmen nicht gerade Freude zu machen. Aber die Mannschaft der kleinen Y-90, drei junge Männer um die zwanzig, sprachen mit Halfrich und Kellard, als hätten sie sagenhafte Helden vor sich.
Zwölf bis fünfzehn Jahre Inspektionsdienst flößten ihnen Respekt ein.
Erst nach langer Zeit, als sie bereits eine beträchtliche Strecke durch das sonnendurchflutete All zurückgelegt hatten, wagte der Navigator, Kellard eine Frage zu stellen.
„Sie waren bei der ersten Mannschaft dabei, die auf Ganymed landete, nicht wahr, Sir?“
Kellard nickte. „Ja.“
„Muß das nicht wundervoll sein?“ rief Shay aus. „Ich meine, der erste zu sein.“
„Das war es“, sagte Kellard.
„Vielleicht, eines Tages, könnte auch ich…“, begann Shay, unterbrach sich dann und setzte fort: „Ich meine, wenn der Vorstoß zu den Sternen so bald erfolgen kann, wie einige Leute behaupten, könnte ich vielleicht einer der ersten dort draußen sein…“
„Sie könnten es sein“, sagte Kellard. „Irgend jemand muß der erste sein. Die Sterne warten. Wir müssen nur hinaus und immer wieder hinaus, und die Sterne werden uns gehören wie die Planeten hier, für alle Zeit, Amen.“
Shay blickte ihn verwirrt an. Er trat von einem Fuß auf den andern und ging dann fort.
Halfrich hatte zugehört und beobachtet. Er sagte: „Das war wie ein Schlag ins Gesicht dieses Jungen. Mußte das sein?“
Kellard zuckte die Achseln. „Was habe ich gesagt? Ich wiederholte nur, was jeder derzeit fühlt: den Ruhm der Eroberung des Weltalls.“
„Ich würde eine Menge dafür geben“, sagte Halfrich, „um zu erfahren, was Sie quält. Wir werden bald auf…Sonnenseite' sein, und wir werden es herausfinden. Aber mir wäre lieber, wenn Sie es mir jetzt sagten.“
„Gut“, sagte Kellard. „Ich werde es Ihnen sagen. Ich bin enterbt worden. Das quält mich.“
Mehr wollte er nicht sagen, und Halfrich stellte auch keine weitere Frage, bis die Y-90 schon lange an der Umlaufbahn der Venus vorüber war und Landevorbereitungen getroffen wurden.
„Ich nehme an“, sagte Halfrich, „daß Sie keinem von- uns persönlich böse sind. Wenn etwas dort gefährlich ist — jetzt wäre noch Zeit, uns zu warnen.“
Kellard überlegte. „Ich nehme an, daß Sie dort landen werden, wo wir verunglückten.“
„Natürlich.“
„Dann landen Sie“, sagte Kellard. „Soviel ich weiß, gibt es dort nichts, was Ihnen Schaden zufügen könnte.“
Am Bildschirm sah er den Merkur langsam näherkommen: ein winziger, weißer Halbmond, der sich gegen die Sonne kaum abhob. Denn hier war die Sonne ein Monstrum, umrandet von zuckenden Flammen. Sie ließ die Sterne verblassen und durchtränkte das ganze Gebiet mit Strahlungen, die sie schon längst getötet hätten, wäre der Raumer nicht mit entsprechenden Schutzvorrichtungen versehen gewesen.
Kellard erinnerte sich, daß damals, als er den Weg das erstemal zurückgelegt hatte, Binetti etwas zitierte. Eine Zeile aus einem Gedicht von William Blake, hatte er gesagt. Die Sehnsucht des Nachtfalters nach der Sonne. Und das war so gewesen, dachte er. Drei kleine Falter sind geradewegs in die Glut gestürzt. Ich war der einzige, der wieder herauskam, und nun kehre ich zurück.
Die Y-90 traf Vorbereitungen für die Landung. Sie rasten über die dunkle Seite des Merkur, über die schwarzen Felsen und Gipfel und Schluchten, die nie die Sonne sahen. Und dann brach plötzlich Licht über den ganzen Horizont vor ihnen, und sie flogen über die Sonnenseite.
Früher war diese kleine Welt „der Mond der Sonne“ genannt worden. Und sie sah auch so aus: dieselben kahlen, leblosen, felsigen Ebenen und Bergketten und Spalten, das dornähnliche Aussehen von Spitzen an einem Ort, wo keine Atmosphäre etwas erodierte. Aber der Erdmond war kalt und ruhig, während aufrührerische, verborgene Feuer die Sonnenseite des Merkur förmlich pulsieren ließen. Vulkane spien Asche und Lava, und die infernalischen Strahlenstürme ließen alles in flimmerndem Dunst zucken.
Der Indikator zeigte an, daß die Temperatur an der Außenwand des Rumpfes bis zu vierhundert Grad hinaufkletterte, während die Y-90 hinunterging. Und das weite Tal, das ihn in Träumen verfolgte, dehnte sich vor ihnen aus.
Aus verstreuten, stumpfen Vulkankegeln rieselten noch immer Asche und Staub, und alles war genauso wie damals, als er vom Rettungsraumer aus, der von der VenusStation gekommen war, zurückgeblickt hatte. Und dort glänzte auch am Boden das Wrack, in dem Binetti und Morse gestorben waren.
Kellards Augen suchten sofort die Stelle nördlich des Wracks, die umherliegenden, seltsam geformten Felsbrocken. Er spürte, daß seine Handflächen feucht wurden.
Vielleicht würde nichts sein. Oder konnte das alles noch einmal geschehen? Er glaubte es nicht.
Sie setzten auf, und nach dem dröhnenden Raketenlärm war das gleichmäßige Brummen der Klimaanlage direkt erholsam.
„Haben Sie die Ausrüstung einsatzbereit?“ fragte Halfrich Morgenson.
Der Biophysiker nickte nervös. „Drei Anzüge, und die Hitzeschutzgeräte sind gründlich getestet.“
„Ein Anzug bleibt hier für den Notfall“, sagte Halfrich. „Kellard und ich werden hinausgehen, wenn sich etwas ergibt. Vorerst werden wir nur beobachten.“
Halfrich ordnete an, die Teleskope der Bild-Rekorder und das Radargerät auf die Stelle mit den seltsam geformten Steinen zu richten. Und dann saßen und beobachteten sie. Sie warteten. Nichts.
Kellards Hoffnungen stiegen. Er hatte recht gehabt, sagte er sich, es würde nicht wieder geschehen.
„Wie lange“, fragte er, „werden wir hier sitzen, nur weil der Radar eine unverständliche Aufzeichnung lieferte? Wenn dieser Hitzeschutz nur fünf Minuten lang aussetzt, sind wir geröstet.“
Halfrich sah ihn scharf an. „Ich werde Ihnen sagen, wie lange. Bis Sie die Wahrheit sagen und wir die Wahrheit mit eigenen Augen sehen. So lange.“
Kellard zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen. Ich würde Sie jetzt zur Hölle schicken — wenn wir nicht bereits dort wären.“
Dann beobachteten und warteten sie wieder eine Weile lang.
Bis Morgenson aufgeregt rief: „Dort ist etwas…“
Halfrich eilte ans Teleskop. Kellard blickte auf den Bildschirm, sah den Flammengeysir, der zwischen den Felsen hochzusteigen begann. Er nahm langsam aber ständig an Höhe zu.
„Was ist das?“ fragte Halfrich.
„Sehen Sie das nicht selbst?“ antwortete Kellard. „Das ist eine Art Vulkan, der brennende Gase aus dem Innern stößt. Ich erlebte das zweimal, während ich im Wrack wartete.“
Halfrich sagte: „Das ist an derselben Stelle, wo der Radar Sie das erstemal aufzeichnete — mit jenen andern Leuchtflecken. Das ist so sonderbar — wir werden hingehen und nachsehen.“