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Insofern ist die folgende Geschichte vom Musterknaben eine kleine moralische Erzählung; denn sie will etwas Mißkanntes verstehen lehren, und Verstehen heißt ja wohl, die Anteilnahme des Herzens gewähren.

Seine Mutter war Witwe; noch jung, oft krank, für ewig enttäuscht. Längst wäre sie an jenem Leiden gestorben, das man, höchst anschaulich, »ein gebrochenes Herz« nennt, wenn sie nicht ihn, den kleinen Jungen, gehabt hätte. Seinetwegen lebte sie weiter oder genauer: existierte sie fort. Sie nähte für große Fabriken Leibwäsche; Taghemden und Nachthemden, Unterröcke und Mieder; auf der Nähmaschine und mit der Hand; im Akkord und gegen Stundenlohn; vom Morgen bis in die Nacht hinein, und zuweilen von nachts bis früh. - Sie lebte nicht. Sie nähte. -

Es wäre falsch gewesen, zu ihr von »stillem Heldentum« oder dergleichen zu sprechen. Es wäre überhaupt falsch, ihr Wesen mit solchen Schlagwörtern zu etikettieren. - Sie nähte, statt zu leben: um dem Kinde Schuh und Anzug, Brot und Fleisch kaufen, um ihm für Unterricht und Klassenausflug Geld geben, um ihm das »Buch der Erfindungen und Entdeckungen« und einen Schlitten schenken zu können. Sie arbeitete, um ihn zu erziehen. Und wahrhaftig! Sie erzog ihn.

So selbstverständlich es den Müttern ist, ihr Leben dem der Kinder zu opfern, so seltsam dünkt es manchmal die Kinder, daß es jemanden gibt, der ihr Glück mit dem seinen zu erkaufen scheint.

Als der Junge, von dem hier gesprochen wird, die Mutter einmal mit besonders ernsten Augen betrachtet hatte, wurde jener Musterknabe aus ihm, den er von dieser Stunde an blieb. - Als er, bald danach an einem Nachmittage, die Treppen des Hauses hinauf sprang, hörte er, daß sie den Flur scheuerte und leise sang. Laut wollte er »Mutter« rufen; rief aber nur die erste Silbe; dann schlug er hin, mit dem Kinn gegen die Granitkante einer Stufe, und biß sich die Zunge zur Hälfte durch. - Der Arzt sagte: er müsse in die Klinik; und die Mutter: er müsse für Wochen ins Bett.

Er selber sagte nichts; denn er konnte nicht sprechen. Aber am nächsten Morgen ging er wie stets zur Schule. - Vier Wochen lang brachte er kein Wort zustande. Die Zunge schmerzte und lag wie ein Berg in der blutigen Mundhöhle. Er konnte nichts essen und brachte Flaschenmilch mit, die er in den Pausen mühsam schluckte. Die Schüler lachten ihn aus, und die Lehrer rieten ihm, fernzubleiben. Aber, seit er der Musterknabe geworden war, fehlte er niemals auch nur einen einzigen Tag; seitdem wurde und blieb er Klassenerster.

Nach dem Mittagessen drängte ihn die Mutter täglich zur Tür hinaus, daß er unten im Hofe oder auf dem Platze spiele. Meist sträubte er sich und blieb über den Büchern. Und schlich er doch hinunter, so stand er dann fremd unter den jauchzenden, schwitzenden Kindern, trat sehr bald beiseite, um niemandes Fröhlichkeit zu stören, und spähte oft nach der Turmuhr, daß er die Stunde nicht versäume, zu der ihm die Rückkehr erlaubt worden war. -

Die Mutter nähte, und er lernte. Sie sagte: »Du darfst nicht immer lernen!« und er: »Du darfst nicht so viel nähen!« - Nun: Sie nähte, und der Knabe lernte ...

Wie in einem Tunnel arbeiteten sie sich am Leben vorbei. Froh zu sein, gestatteten sie sich nur, wenn die Mutter zum Quartal das Geld gezählt hatte, das sie in einem alten Briefkarton aufhob, und befriedigt nickte, weil es reichen würde; oder zu Ostern, wenn er sein Zensurheft langsam, mit bescheidenem Stolze, aus dem Ranzen schnallte. Dann lächelten sie einander an und gaben sich einen verstohlenen Kuß. - Das Lächeln verschwand bald. Die Arbeit ging weiter.

Es blieb alles, wie es war. - Der Musterknabe verließ die Volksschule. Eines Abends saß er neben der Mutter am Fenster, und sie bedachten: was nun werden solle . Sie wurden noch ernster als sonst; und da sie sich »Gute Nacht« wünschten, waren Kuß und Lächeln feierlich - und so kam er aufs Gymnasium. Jahre monotonen Fleißes folgten, und nach ihnen wieder ein solch stiller sorgenvoller Abend am Fenster, mit dem gleichen feierlichen Lächeln, - und so ging der Musterknabe auf die Universität. Von der Mutter fort, in eine ferne Stadt ...

Im ersten Semester setzte er zwei Professoren in Staunen; im zweiten prophezeiten ihm alle eine außergewöhnliche Zukunft. Er nickte, schrieb’s der Mutter, und arbeitete weiter.

Sie nähte, noch öfter als einst, auch die Nächte hindurch; schickte ihm jeden Monat das Geld, das er brauchte; manchmal steckte sie sogar zehn Mark in einen ihrer Briefe und schrieb: »Dafür sollst du Dir einen vergnügten Abend machen, mein Junge. Vergiß das nicht!«

Er lächelte, um nicht zu weinen. Und arbeitete.

Im fünften Semester wählte er sich ein Dissertationsthema und lernte ein junges Mädchen kennen. - Daß er seitdem zugrunde ging - denn er ging seitdem zugrunde - war nicht ihre Schuld; sie war anspruchslos und gut gewachsen; sie liebte ihn und tat nichts freudiger, als leise ordnend durch sein Zimmer zu gehen, indessen er am Tisch saß und arbeiten wollte.

Er konnte es nicht mehr. - Doch auch seine Schuld war es nicht, daß er nun endlose Stunden durch fremde Vorstadtstraßen wandern; daß er, einem Mondsüchtigen gleich, am Fenster stehen und in den Himmel starren mußte. Oder er schloß lange die Augen, blickte in sich hinein und erschrak bis zur Blässe, als er sah: er sei für ewig müde, für immer leer . Er wußte jetzt, daß er ein Leben ohne Jugend zu büßen habe. Zwanzig Jahre zu früh hatte er begonnen: Pflichtgefühl zu zeigen; zwanzig Jahre zu spät: Wünschen zu folgen.

Als er das erkannt hatte, blieb ihm nur noch ein Kampf übrig: der Mutter sein Ende zu verbergen; ihr, die in der fernen Heimatstadt noch immer über die Nähmaschine gebückt saß, nähte, nähte . und zuweilen nach der Flurtür ging, weil ihr schien, ein Brief sei in den Kasten geworfen worden.

Er hätte ihr die Wandlung nicht lange verheimlichen können. Doch plötzlich starb sie, ohne daß sie einander noch einmal gesehen hätten. Mit ihr ging sein letzter und einziger Stern unter. Und er verscholl ohne Spur. - Die Professoren schüttelten die Köpfe und murmelten: »Und er war doch so begabt!« Das Mädchen weinte und wartete.

Aber er schrieb nie mehr.

Und wüßten wir auch, wie diese kleine Geschichte weitergeht, - hier ist sie zu Ende ... Sie erzählte das Schicksal des verachteten Musterknaben, der kein Mann wurde, da er kein Kind war.

Ein Menschenleben

Solange es eben ging, hatte er arbeiten gemußt.

Jeden Morgen ... Noch lagen die Straßen leer und müd und übernächtigt. Die Schritte klapperten tönern auf dem Pflaster. Hinter grau verhängten, gähnenden Fenstern klirrten die Weckuhren. (Da standen sie jetzt auf. Mit eingekniffenen Augen. Und abwesenden Gesichtern.) ... Die Bäume in den Anlagen froren. Ein Vogel plusterte sich. Und hatte noch keinen Mut zum Singen. Und der Mond schwamm fahl in einen unendlich trostlosen Himmel hinaus . Ein Lastwagen polterte in ein Brückenloch. Wie ein Sarg. Und auf dem Wagen stand ein kleiner Hund. Der kläffte wütend. Aber eigentlich nur aus Angst .

Plötzlich stand die Fabrik da. Schluckte ihn ein. Mit tausend andern.

Abends trabte er dann heim. Lahm in den Knien. Der blecherne Kaffeekrug hing schwer in der Hand. - Die Bäume in den Anlagen froren. In einem Sandhaufen steckte ein zerbrochenes Spielzeug. Auf den Bänken hatten schwatzende Frauen gesessen. - Die Straßen ertranken in tiefen Schatten. An den Schaufenstern schnatterten die Rolladen herunter. Die letzten Kinder wurden ins Haus gerufen . In einem Gasthaus rasselte ein Orchestrion. Ein Dienstmädchen trug Bier über die Straße .

Tagaus, tagein. Manchmal lag Schnee. Manchmal waren die Bäume bunt. Wie Feldblumensträuße. Aber immer brannten ihm die Augen. Und immer hastete er vorbei. Ohne sich umzusehen. Jahraus, jahrein. Nur sonntags war Ruhe. Da saß er am Fenster. Und sah die Sonne. - Und wenn seine Frau schalt, weil er auf seiner alten Geige herumstrich, konnte er sogar lächeln. Denn dann war er glücklich. Er spielte nicht etwa gut. Die Hände waren steif und schwer. Aber ihm klang es wundervoll. Immer wieder spielte er diese paar Lieder, die er als Junge gelernt hatte. Was sie nicht alles zu erzählen wußten! Seine Frau hörte das nicht. Denn er spielte wirklich schlecht. Aber er lächelte dabei .