»Weil wir gerade von Ihrem Beruf sprechen«, sagte ich, »hätte ich eine Frage an Sie, die mich schon seit meiner Kindheit beschäftigt. Damals traute ich mich nicht. Heute schon eher. Denn ich bin Journalist geworden.«
»Macht nichts«, meinte er und goß sich Kaffee zu. »Was wollen Sie seit Ihrer Kindheit von mir wissen?«
»Also«, begann ich zögernd, »bei Ihrem Beruf handelt es sich doch eigentlich um eine Art ambulanten Saisongewerbes, nicht? Im Dezember haben Sie eine Menge Arbeit. Es drängt sich alles auf ein paar Wochen zusammen. Man könnte von einem Stoßgeschäft reden. Und nun .«
»Hm?«
»Und nun wüßte ich brennend gern, was Sie im übrigen Jahr tun!«
Der gute alte Nikolaus sah mich einigermaßen verdutzt an. Es machte fast den Eindruck, als habe ihm noch niemand die so naheliegende Frage gestellt. »Wenn Sie sich nicht darüber äußern wollen . «
»Doch, doch«, brummte er. »Warum denn nicht?« Er trank einen Schluck Kaffee und paffte einen Rauchring. »Der November ist natürlich mit der Materialbeschaffung mehr als ausgefüllt. In manchen Ländern gibt’s plötzlich keine Schokolade. Niemand weiß wieso. Oder die Äpfel werden von den Bauern zurückgehalten. Und dann das Theater an den Zollgrenzen. Und die vielen Transportpapiere. Wenn das so weitergeht, muß ich nächstens den Oktober noch dazunehmen. Bis jetzt benutze ich den Oktober eigentlich dazu, mir in stiller Zurückgezogenheit den Bart wachsen zu lassen.«
»Sie tragen den Bart nur im Winter?«
»Selbstverständlich. Ich kann doch nicht das ganze Jahr als Weihnachtsmann herumrennen. Dachten Sie, ich behielte auch den Pelz an? Und schleppte 365 Tage den Sack und die Rute durch die Gegend? Na also. - Im Januar mache ich ann die Bilanz. Es ist schrecklich. Weihnachten wird von Jahrhundert zu Jahrhundert teurer!«
»Versteht sich.«
»Dann lese ich die Dezemberpost. Vor allem die Kinderbriefe. Es hält kolossal auf, ist aber nötig. Sonst verliert man den Kontakt mit der Kundschaft.«
»Klar.«
»Anfang Februar lasse ich mir den Bart abnehmen.«
In diesem Moment läutete es wieder an der Flurtür. »Entschuldigen Sie mich, bitte?« Er nickte. Draußen vor der Tür stand ein Hausierer mit schreiend bunten Ansichtskarten und erzählte mir eine sehr lange und sehr traurige Geschichte, deren ersten Teil ich mir tapfer und mit zusammen-»gebissenen« Ohren anhörte. Dann gab ich ihm das Kleingeld, das ich lose bei mir trug, und wir wünschten einander auch weiterhin alles Gute. Obwohl ich mich standhaft weigerte, drängte er mir als Gegengeschenk ein halbes Dutzend der schrecklichen Karten auf. Er sei, sagte er, schließlich kein Bettler. Ich achtete seinen schönen Stolz und gab nach. Endlich ging er.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, zog Nikolaus gerade ächzend den rechten Stiefel an. »Ich muß weiter«, meinte er, »es hilft nichts. Was haben Sie denn da in der Hand?«
»Postkarten. Ein Hausierer zwang sie mir auf.«
»Geben Sie her. Ich weiß Abnehmer. Besten Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wenn ich nicht der Weihnachtsmann wäre, könnte ich Sie beneiden.«
Wir gingen in den Flur, wo er seine Utensilien aufnahm. »Schade«, sagte ich. »Sie sind mir noch einen Teil Ihres Jahreslaufs schuldig.« Er zuckte die Achseln. »Viel ist im Grunde nicht zu erzählen. Im Februar kümmere ich mich um den Kinderfasching. Später ziehe ich auf Frühjahrsmärkten umher. Mit Luftballons und billigem mechanischen Spielzeug. Im Sommer bin ich Bademeister und gebe Schwimmunterricht. Manchmal verkaufe ich auch Eiswaffeln in den Straßen. Ja, und dann kommt schon wieder der Herbst - und nun muß ich wirklich gehen.«
Wir schüttelten uns die Hand. Ich sah ihm vom Fenster aus nach. Er stapfte mit großen, hastigen Schritten durch den Schnee. An der Ecke Ungerstraße wartete ein Mann auf ihn. Er sah wie der Hausierer aus, wie der redselige mit den blöden Ansichtskarten. Sie bogen gemeinsam um die Ecke. Oder hatte ich mich getäuscht? Eine Viertelstunde danach klingelte es schon wieder. Diesmal erschien der Laufbursche des Delikatessengeschäftes Zimmermann Söhne. Ein angenehmer Besuch! Ich wollte bezahlen, fand aber die Brieftasche nicht gleich. »Das hat ja Zeit, Herr Doktor«, meinte der Bote väterlich. »Ich möchte wetten, daß sie auf dem Schreibtisch gelegen hat!« sagte ich. »Nun gut, ich begleiche die Rechnung morgen. Aber warten Sie noch, ich bring’ Ihnen eine gute Zigarre!« Die Kiste mit den Zigarren fand ich auch nicht gleich. Das heißt, später fand ich sie ebensowenig. Die Zigarren nicht. Die Brieftasche auch nicht. Das silberne Zigarettenetui war auch nicht zu finden. Und die Manschettenknöpfe mit den großen Mondsteinen und die Frackperlen waren weder an ihrem Platz noch sonstwo. Jedenfalls nicht in meiner Wohnung.
Ich konnte mir gar nicht erklären, wohin das alles geraten sein mochte. Es wurde trotzdem ein stiller hübscher Abend. Es klingelte niemand mehr. Wirklich, ein gelungener Abend. Nur irgend etwas fehlte mir. Aber was? Eine Zigarre? Natürlich! Glücklicherweise war das goldene Feuerzeug auch nicht mehr da. Denn das muß ich, obwohl ich ein ruhiger Mensch bin, bekennen: Feuer zu haben, aber nichts zum Rauchen im Haus, das könnte mir den ganzen Abend verderben!
Peter
»Also, ich bin gespannt wie ein Regenschirm, was es heute mittag gibt«, erklärte Peter, als sich Arno von ihm verabschiedete. Arno seinerseits wackelte mit den Ohren, weil er das stets tat, wenn ihm nicht wohl war, und sagte: »Meine Vier im Diktat hat mich satt gemacht. Mein Alter wird furchtbar ausholen, wenn er die Zensur sieht.« Peter hieb ihm eins auf den Schulranzen und lachte. Aber Arno blickte ihn böse an, machte »Bäh!« und ging seines Wegs.
Peter pfiff sich die Treppen hinan, klingelte dreimal und murmelte fortwährend vor sich hin: »Denk’ dir, Muttchen! Ich hab’ im Diktat die Eins.« Er klingelte sicherheitshalber noch zweimal und beschloß dabei, von Arnos Vier, noblerweise, nichts zu sagen. Obwohl es natürlich guten Effekt gemacht hätte ...
Er klopfte in kurzen Abständen sechsmal und klingelte wieder. - Er legte das Ohr an die Tür. Drinnen schlug ein angelehntes Fenster. - Er wurde ungeduldig, rundete den Mund dicht am Schlüsselloch und rief: »Mama! Mama, Ma-ma!«
Aber sie kam nicht. - Er trommelte mit der Faust an den Briefkasten und klingelte wie das Telephon klingelt, wenn es allein in der Wohnung ist. Dann wurde er unruhig, bekam es mit der Angst und trat mit dem Stiefel gegen die Tür!
Nichts rührte sich. Wo sie nur stecken mochte? Wenn sie nur beim Fensterputzen nicht auf die Straße - ... Doch das hätten die Leute ja merken müssen. Und dabei roch es so gut nach Eierkuchen! Jetzt freilich hätte er gar keinen Eierkuchen gemocht.
Er klingelte noch einmal. Aber ganz behutsam, als wollte er nicht stören ... Dann setzte er sich auf die Treppe, holte tief Atem, stopfte die Fäuste unters Kinn und guckte zum Schlüsselloch hinüber, als sei es ein verzaubertes Auge ...
Na ja, und dann stand mit einem Mal ein Schutzmann da. Alle Wetter! Der zwirbelte seinen Schnurrbart, zog das Notizbuch zwischen den Uniformknöpfen heraus und fragte: »Welche Hausnummer ist das hier?« - Peter antwortete: »Achtundvierzig.« Der Schutzmann preßte den Bleistift in die Unterlippe, murmelte: »So, so. Hm. Sechs mal acht ist achtundvierzig«, blätterte in seinem Buch, zuckte die Achseln und meinte: »Meldungen liegen nicht vor.« Peter traten die Tränen in die Augen.
»Heul bloß nicht«, bat der Schutzmann, griff in die Tasche und holte ein ganz, ganz kleines Automobil heraus. Das hielt er an den Mund blies die Backen auf. Er sah dabei aus wie einer vom Posaunenchor. Und das Auto wurde immer größer und immer größer, bis es auf der Treppe kaum noch Platz hatte. Der Schutzmann setzte sich ans Steuer und sagte: »Hopp! Jetzt wollen wir die Mama suchen.« Peter kletterte in den Wagen. Der Motor begann zu laufen, und dann rumpelten sie die Treppe hinunter. Das war kein Spaß. Vor allem die Kurven machten Schwierigkeiten. - Unten kam gerade Frau Pfennigwert aus dem Keller. Sie hatte Kohlen und Briketts geholt und verlor vor Schreck die Eimer. Und Augen machte sie! Peter mußte sich wegdrehen.