Er kam auf uns zu, mit ruckartigen Schritten und ausgebreiteten Armen. »Betts!« schrie ich. »Um Gottes willen…« Er ignorierte mich. Mit schriller, kreischender Stimme begann er zu reden, wandte den blutüberströmten Kopf in alle Richtungen, als spräche er zu einer un sichtbaren Versammlung. Eine schreckliche Halluzination hatte ihn in der Gewalt. Er sah Dinge, die nicht existierten – oder vielleicht existierten sie und gingen über mein menschliches Fassungsvermögen.
»Die Zeit ist gekommen«, sagte er. »Der Mond ist aufgegangen über dem heiligen Turm. Die Ungläubigen müssen sterben, wie es die Göttin des Turms befohlen hat. Die Zeit ist – jetzt!«
Er sprang auf uns zu, hob einen Arm, und im bleichen Mondlicht sah ich ein langes Messer in seiner Faust blitzen. Schaudernd schloß ich die Augen, Lucilia drückte sich an mich, stöhnte und versuchte meine Hand zu ergreifen.
Aber Betts warf sich nicht auf uns. Ein wilder Lärm ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Von allen Seiten der Lichtung drangen donnernde Trommelschläge zu uns, kamen aus der Tiefe des Dschungels. Es klang, als würde ein heftiger Regenguß auf ein Zeltdach prasseln. Immer lauter schwollen die Trommelschläge an, zu einem ohrenbetäubenden Krach. Und dann schlang sich ein behaarter weißer Arm von hinten um meine Taille und hob mich hoch. Ein tierischer Gestank stieg mir in die Nase, so stark, daß mir übel wurde. Ich spürte, wie ich davongetragen wurde, mit seltsamen, schaukelnden Bewegungen, auf den Waldrand zu. Und dort, im schützenden Schatten der Fächerpalmen, wurde ich zu Boden geworfen. Lucilia Betts fiel neben mir herab. Als ich wieder soweit zu mir gekommen war, um mich umzublicken, war das behaarte Wesen verschwunden. So wie Kodagi verschwunden war, nachdem er noch einen Augenblick zuvor im Schlamm vor meiner Veranda gelegen hatte.
Und dann brach der Lärm erst richtig los. Ein wildes Trommeln klang auf, ohne Rhythmus, ein Tosen und Dröhnen, das aus dem Nichts zu kommen schien. Betts’
kreischender Gesang mischte sich in die Höllenmusik. Er hatte sein Messer fallen lassen und umkreiste nun wieder den weißen Turm, im schwankenden Gang eines Riesengorillas. Rings um ihn sah ich die Leiber der Eingeborenen, glänzend schwarz im Mondlicht. Geduckt saßen sie im Gras, die Gesichter hinter dreieckigen Masken aus geschnitztem schwarzem Holz verborgen. Die Masken der Bakanzenzi…
Atemlos schienen sie Betts zu beobachten, als ob sie auf irgend etwas warteten. Er sah sie, und sein schaukelnder Gang steigerte sich zu einem seltsamen, wilden Hüpfen.
Es kann kein größeres Entsetzen geben, dachte ich. Das einzige, was mich vor dem Wahnsinn bewahrte, war die Berührung von Lucilias Fingern, die ich auf meinen gefesselten Handgelenken spürte. Dann hörte ich ihren entsetzten Schrei.
»Der Turm! Sieh doch!«
Sie drückte sich zitternd an mich, und ich starrte in fasziniertem Grauen auf die Turmspitze. Dort schwebte ein Gesicht, das in wilder Lust auf Betts herabblickte - ein häßliches, weißes behaartes Gesicht, mit triefenden Fängen, die im Mondlicht glitzerten. Das Gesicht eines Affen – eines weißen Affen, eines riesenhaften Monsters, größer als die Gorillas.
Er sprang hinter Betts herab, trottete ihm nach, machte aber keine Anstalten, ihn einzuholen. Wieder schrie Lucilia auf, und ich sah, wie ein zweiter weißer Affe auf der Turmspitze auftauchte, herabsprang und sich seinen beiden Vorgängern anschloß. Einer nach dem anderen kam herab, reihte sich ein in die Prozession der Ungeheuer, die von Betts angeführt wurde. Als ich endlich die Augen schloß, überwältigt von dem grausigen Anblick, umkreisten mehr als zwanzig Affen den Turm.
Ich schlug die Augen erst wieder auf, als ein seltsam vibrierender Gesang ertönte, und sah, daß das Mondlicht die Turmspitze erreicht hatte. Der Gesang schwoll auf und ab, wie Meereswogen. Flammen schössen rings um die Lichtung empor, flackerten und knisterten, warfen Funken in das Dunkel. Die Bakanzenzi begannen zu tanzen und zu kreischen und schlugen dazu auf ihre infernalischen Trommeln.
Und plötzlich waren die Eingeborenen verschwunden. Die Bewohner des Dschungels hatten ihren Platz eingenommen. Ich sah Leoparden durch das Unterholz springen, große Pythonschlangen wiegten sich im Feuerschein, ihre Stimmen vereinten sich zu zischenden Gesängen. Krokodile rasten über die Lichtung, mit weit geöffneten Rachen. Und der Trommelwirbel schwoll immer lauter an.
Lucilia war in Ohnmacht gefallen. Ich preßte sie an mich, starrte auf die grausige Szene, gebannt vor Entsetzen. Die großen Affen schlugen sich auf die Brust, während sie unablässig den Turm umkreisten, mit weit aufgerissenen Mäulern. Speichel tropfte von den Fängen. Betts führte die Prozession nicht mehr an. Er hüpfte nicht mehr um den Turm herum. Er rannte davon, so schnell ihn seine schwitzenden Beine trugen, schreiend, von Todesangst gejagt, die Arme hilfeflehend zum Mond erhoben.
Ich konnte die Augen nicht schließen. Jede Einzelheit der schrecklichen Szene brannte sich tief in mein Gedächtnis ein: Die Flammen, die auf ihre kannibalistischen Opfer warteten, die Dschungeltiere, die auf der Lichtung umhersprangen, die großen Affen, die ihre Beute gnadenlos einkreisten.
Und dann hatten sie ihn gefangen. Ich hörte einen herzzerreißenden Schrei, der immer schriller wurde, bis er, auf seinem Höhepunkt angelangt, abrupt abriß. Dann klang ein Triumphgeheul auf, und die riesigen Mafui-Affen stürzten sich auf ihr Opfer.
Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich in das ängstliche Gesicht meines Hausdieners Njo. Ich lag auf meiner Veranda, im Dorf Kodais, und Lucilia Betts lag neben mir auf der Türschwelle. Njo bemühte sich gerade, ein paar Tropfen Brandy zwischen meine zusammengebissenen Zähne zu pressen. Ich umklammerte seinen Arm. »Wer – wer hat mich hergebracht?«
Der Jopalou erschauerte. »Du warst hier, Bwana«, flüsterte er. »Ich habe euch beide gefunden, als der Tag anbrach – als mich die Schreie der Leoparden und die Trommelschläge weckten.«
Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen, so sehr ich ihn auch mit Fragen bestürmte. Er blieb dabei, daß er uns bei Tagesanbruch gefunden hatte. Mehr wollte er nicht dazu sagen.
Als ich wieder einigermaßen bei Kräften war, ließ ich Lucilia in seiner Obhut und ging auf unsicheren Beinen durch den Dschungel, zur Lichtung der Bakanzenzi. Ich war entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.
Die Lichtung lag leer und verlassen vor mir. Am Fuß des Turms fand ich Blutflecken und viele Fußspuren – menschliche Spuren. Und auf dem feuchten Boden entdeckte ich noch etwas anderes: zwei geheimnisvolle Gegenstände, eine sichelförmige Scheibe aus Perlmutt, das Symbol der Astarte, und einen goldenen Siegelring, halb im Schlamm vergraben, der die Initialen Matthew Betts’ trug. Und darin lag eine winzige, zusammengerollte grüne Schlange und starrte mich mit bösen, trüben goldenen Augen an – das Symbol der Bakanzenzi. Auf dem Rückweg ging ich an Kodagis Hütte vorbei. Ich wollte ihm nur eine einzige, aber sehr wichtige Frage stellen. Ich schob die Schilfmatte beiseite, die vor seiner Tür hing. Er saß auf dem Boden und blinzelte mich an.
Ich setzte mich zu ihm. »Weißt du, wo Betts ist?«
Er starrte mich an, und in diesem Augenblick lag ein so unheimliches Wissen in seinen dunklen Augen, daß ich unwillkürlich zurückwich. »Gestern nacht hörte ich die Schreie der Leoparden, Bwana«, sagte er und zuckte mit den Schultern, »und das Triumphgeheul der großen Affen. Vielleicht wurde Betts von Wildkatzen zerrissen oder von einem Gorillastamm getötet, der aus dem Kivu-Land zu uns gekommen ist.«
»Affen…«, flüsterte ich. »Es war ein Affe, der Lucilia und mich in Sicherheit gebracht hat. Er hat uns unter die Fächerpalmen gelegt. Ein Affe…«
»Vielleicht ist der Affe dein Freund, Bwana«, sagte Kodagi sanft. »Vielleicht hat er dich gerettet, weil du gut zu ihm warst, seine Wunden geheilt hast – weil du ihm erlaubt hast, durch dein Zauberinstrument zu blicken und…«